Kapitel 1: Donnergrollen
Lellavo gab sich alle Mühe, möglichst grimmig auszusehen: Seine hohe Stirn war in Falten gelegt, sein feuerroter Bart bebte. Der Anblick hätte ausreichen sollen, um einen elfjährigen Jungen einzuschüchtern. Doch wirkte Lellavo auf seinen Neffen nicht halb so furchteinflößend, wie er glaubte: Mit den langen Armen, dünnen Beinen und großen Füßen sieht er fast aus, wie ein großer Hase, dachte Euamellin. Da spitzte Lellavo auch noch seinen Mund, weil er besonders streng und ernsthaft aussehen wollte. Euamellin konnte gerade noch sein Gesicht abwenden, bevor er kichern musste. Schnell murmelte er eine Entschuldigung: „Ich meine ja nur, weil man doch gar nichts mehr von drinnen sehen kann, wenn Türen und Fenster geschlossen sind. Taranis regnet doch jetzt gerade auch und man sieht von draußen nicht die Bohne…“.
„Bei meinem Barte! Wer erzählt die Geschichte, Sohn des Snevemin – du oder ich?“, herrschte ihn Lellavo an wobei er wild gestikulierte. „Kannst DU zur Leier vortragen? Kennst DU die Geschichte Deiner Geburt? Also unterbrich mich nicht immer!“ Euamellin ließ einen schuldbewussten Seufzer ertönen. Lellavo musterte seinen Neffen: Sah er da unter der ausgeprägten Stirn etwa die Spur eines Lächelns? Nein, Euamellin hielt nur den Kopf leicht zur Seite geneigt – es war tatsächlich kein Anflug von Hochnäsigkeit zu finden. Nun ja, besonders aufmüpfig wirkt er heute nicht, dachte Lellavo. In dieser Haltung fiel ihm auf, dass sein Neffe die Haare hinter seine Ohren gekämmt hatte. So nahm man kaum wahr, dass sie ein wenig abstanden. Lellavo kamen seine eigenen, gewaltig abstehenden Ohren in den Sinn und er musste lächeln.
Lellavos Grinsen wurde breiter. Nun ja, er gibt sich wirklich Mühe, mir zu gefallen, dachte er, und drehte nachdenklich an seinem Halsschmuck, einen Torques-Ring mit kunstvoll verzierten Enden. Wenn er doch nur nicht so ungeduldig wäre und immer sofort alles sagen müsste, was ihm durch den Kopf geht! Und schon rutschte Euamellin wieder unruhig auf der großen Truhe hin und her. Bei Onkel Lellavo saß er lieber auf der Truhe als auf den Tierfellen und Binsenmatten am Boden. Wer weiß, ob die jemals gereinigt wurden. Lellavo schielte seinen Neffen mit zusammen¬gekniffenen Augen an. „Geduld ist nicht gerade deine Stärke! Kannst du mir nur einen Grund nennen, warum ich mich immer noch mit dir abgebe, hm?“
„Vielleicht, weil ich dein bester Schüler bin?“ antwortete ihm Euamellin in perfektem haeduischem Keltisch und grinste ihn an. „Gib nicht so an! Den einen oder den anderen keltischen Dialekt beherrscht doch fast jeder. Schließlich hat sich unser Stamm schon seit Vorväter-gedenken angepasst.“ Euamellin war in seinem Stolz gekränkt. Das konnte er nicht so stehen lassen. „Und was ist mit Griechisch? Hat da auch jeder von den Händlern genug aufschnappt, um sich mit ihnen verständigen zu können? Außerdem, nenn mir doch nur einen Schüler von dir, der besser keltisch spricht!“ Lellavo verdrehte die Augen. „Na schön, na schön, du bist begabt“, gab er Euamellin nach. „Du trägst deinen Namen »der Sprachglänzende« zu Recht. Ich gebe zu, wenn du willst, kannst du dich nicht nur in unserem Ubisch ausgezeichnet ausdrücken; chattisches Suebisch beherrschst du auch fast so gut wie dein Vater. Und mit dem Schreiben der griechischen Buchstaben stellst du dich auch nicht ungeschickt an. Zufrieden?“
Verdutzt blickte Lellavo ihn an, während die Barthaare unter seiner Nase bereits erregt zitterten. „Bei meinem Barte, das kommt doch noch!“ entgegnete er gereizt. Dem drängenden Blick seines Neffen konnte er jedoch nicht standhalten: „Wenn du immer alles im Voraus wissen musst, also meinetwegen: Du hast doch bestimmt von Ariovistos gehört, dem Sohn des Aginomello?“ Euamellin nickte: „Natürlich, das ist doch mächtigste Suebenführer von allen.“ „Damals war sein Vater der mächtigste Adlige unter den Albis-Sueben“, entgegnete Lellavo, „trotzdem war er zu Beginn längst nicht so bedeutend wie Ariovistos. Doch war er schon immer sehr ehrgeizig und er hat es tatsächlich erreicht, die widerstreitenden Stämme der Sueben näher zusammenzubringen.“ „Wie hat er denn das geschafft, wenn sie sich doch immer untereinender ausraubten und Krieg führten?“, platzte es aus Euamellin heraus, während er auf der Truhe wippte. „Na, er hat eben ihre Notlage ausgenutzt. Außerdem war er brutal und rücksichtslos, dafür aber ein sehr geschickter Feldherr, der seine Krieger zu drillen und zu disziplinieren verstand. Ebenso verstand er die Kunst, geschickt und gewaltfrei zu verhandeln, wichtige Spielzüge im Ringen um die Macht. Zuerst schaffte er es nach und nach, unter den Sueben mehr oder weniger lose Bündnisse herzustellen: Er konnte die Mehrheit der Stämme überzeugen, sich gegenseitig adlige Geiseln zu stellen.“ Dabei sprach Lellavo das Wort »Geisel« aus, als sei es ein Schimpfwort und es verfinsterten sich seine Gesichtszüge.
„Hast du etwas gegen das mit den Geiseln? War es nicht so, dass es KEINEN Krieg mehr geben soll und alle sich vertragen? Machen das nicht alle Stämme? Das klingt doch friedlich und nett!“, setzte Euamellin sofort nach. Lellavo stutzte. Dann nahm er beiläufig sein Schwert von der Wand, während er ruhig und in nun besonders liebenswürdigem Tonfall weitersprach. „Ja - machen doch alle Stämme. Einfach mal so ein Bündnis schließen und Geiseln austauschen. Die werden schon gut behandelt werden, schließlich sind sie die Garantie für das Bündnis. Wahrscheinlich werden sie akzeptiert und gehen im fremden Stamm auf. Kann sein, passiert ja oft genug, wie auch bei deinem Vater.“ Die letzten Worte sprach er immer leiser, wobei sich ein grimmiges Grinsen im Gesicht breit machte und er mit der Hand den Schwertgriff umklammerte. „Und wenn nicht…?“ Mit einem schnellen Ruck zog er unversehens das Schwert blank, setzte es seinem Neffen mit wohlüberlegtem Abstand unter die Kehle und schrie dabei: „Hast Du einmal überlegt, was mit den Geiseln passiert, wenn eine Seite dennoch den Bund bricht?“ Euamellin fiel vor Schreck rücklings von der schweren Truhe, während Lellavo mit seinem Schwert fuchtelte und weiterbrüllte: „Was passiert wohl, wenn ein Stamm weniger Gefallen an den Geiseln findet, als wir das gewöhnlich tun? Hast du daran schon gedacht? Oder wenn eine andere Adelsgruppe an die Macht kommt, denen die Geiseln egal sind? Oder wenn sie von einem anderen Stamm besiegt werden? Überleg dir auch einmal, wie es sich anfühlt, wenn man so mir nichts dir nichts von zu Hause weg muss, in die Fremde – ohne Freunde, ohne Familie!“ Euamellin saß mit offenem Mund auf dem Boden und starrte auf den blanken Stahl unter seiner Kehle. Dann fasste er sich, stand auf, klopfte sich den Staub von der Hose. Er setzte sich wieder auf die Truhe und kratzte sich am Hinterkopf. „Nein, daran habe ich wohl noch nicht gedacht…“.
Lellavo steckte das Schwert wieder ein und hängte es zurück an die Wand. Seinen Neffen hatte er sichtlich aufgerüttelt, was ihn milder stimmte. „Da hast du nun etwas, worüber du nachdenken kannst.“ Mit der Leier zeigte er zur Tür und bedeutete seinem Neffen, zu gehen: „Es ist spät geworden. Komm morgen wieder.“
Nach einer Weile setzten sie sich wieder. Veleda rötete sich die Wangen mit Ruan-Kraut-Extrakt, während Euamellin ihr den Spiegel hielt. „Ich habe auch gehört, du hast große Fortschritte beim Schwimmen und Reiten gemacht? Papa meint, du wirst einmal mindestens so gut wie er? Erzähl mal, Sohn des großen »Schwimmers«! Wie war das genau?“ Das ließ sich Euamellin nicht zweimal sagen. So prahlte er stolz mit seinen Erfolgen. Veleda hatte Mühe, sich die Fingernägel zu bemalen oder die Brauen mit Beerensaft nachzuziehen: Euamellin war so von seinen Erzählungen gefangen, dass er sie reichlich mit Gesten unterstützte und der Spiegel kaum zur Ruhe kam. Die Zeit verging für ihn wie im Fluge. „Schade eigentlich“, murmelte er, als Veleda fertig war und den Raum verließ. Ihre Haare fielen über die Gewänder und bei jedem Schritt begleitete sie das Klingeln der Glöckchen und das Klappern der Halsreifen und Armbänder.
Lellavo räumte eine leere Amphore beiseite und mühte sich, das Herdfeuer in der Mitte des Wohnraumes zu entzünden. Euamellin setzte sich und ließ seine Blicke durch den vertrauten Raum schweifen, während Lellavo sich mit dem Feuerstein abmühte. An der Wand neben der Feuerstelle hingen benutzte Messer und Fleischgabeln an eisernen Haken. Die Tontöpfe des Kochgeschirrs standen ohne erkennbare Ordnung auf einfachen Holzregalen. Die kleinen Schüsseln, Schalen und Tongefäße waren nicht gewaschen, dazwischen lagen wahllos verstreut ein paar Wachstäfelchen und Schreibgriffel. An einem Holzlöffel auf dem Boden erkannte er den eingetrockneten Rest eines Eintopfs mit Linsen, der wohl irgendwann einmal von dem niedrigen Tisch heruntergefallen sein musste. Onkel Lellavo hat eine sonderbare Vorstellung von Ordnung, dachte Euamellin. Schließlich räusperte er sich, Lellavo fuhr herum. „Kannst es gar nicht erwarten, mit mir Singen zu üben und das Schreiben?“ Euamellin machte ein enttäuschtes Gesicht. Lellavo schmunzelte. „Deshalb hast du mich also nicht geweckt. Lass mich mal raten… Du wolltest wissen, wie die Sueben groß werden konnten. Das ist auch der Grund deines Besuches, oder?“ Euamellin nickte. Selbstzufrieden bückte sich Lellavo wieder über die Feuerstelle. „Hm, verdammter Feuerstein, bei meinem Barte… Vermutlich kannst du aber sowieso nicht abwarten, wenn ich dir die Geschichte zur Leier vortrage – oder? Da du mich ohnehin gleich unterbrechen würdest, können wir das Wichtigste auch vorher klären. Und hilf mir mal mit dem Feuer, ja? Du hast sowieso die geschickteren Finger.“ Lellavo reichte den Feuerstein weiter an Euamellin, der schnell ein Feuer entzündete. Der Qualm, der sich in der Hütte ausdehnte, kam ihm vor wie ein großer Gespensterhund, der zu gähnen anfängt, während das Licht des Feuers wie eine Schlange um die sparsamen Sonnenstrahlen aus dem Windloch tänzelte. In Lellavos Hütte herrscht immer eine seltsame Stimmung, dachte Euamellin.
Lellavo hängte einen Wasserkessel in die Kette über dem Feuer. „Die Sueben… “, fragte Euamellin nach, „wieso wurden sie nun in kurzer Zeit so mächtig?“ „Wie hättest DU denn versucht, deine Herrschaft auszudehnen?“, fragte Lellavo zurück und zog sich seinen dunkelblauen Kittel über den Kopf. „Mal sehen, zuerst hätte ich versucht, ein besonders großes Bündnis zusammenzubringen. Meine Stämme, Nachbarstämme…“ Euamellin sprach vorsichtig weiter während er zu Boden blickte, „und damit sich alle daran halten, hätte ich eben Geiseln ausgetauscht.“ Lellavo betrachtete ihn aufmerksam. „Das hättest du sicher“, antwortete er nach einem kurzen Seufzer, „Nun ja, so fing es ebenfalls bei den Sueben an - und ist noch heute so, auch bei Ariovistos, des Aginomello Sohn.“ Lellavo nahm mit dem Schürhaken den Kessel vom Feuer und begann seinen Oberkörper zu waschen „Reicht aber noch nicht. Was noch?“. „Man muss wohl nicht nur Verhandlungen, sondern sehr oft auch seine Krieger einsetzen. Wer sich nicht überzeugen lässt, den überzieht man mit Krieg, Bündnispartner müssen mithelfen.“ „Ja, so wachsen Gefolgschaft, Ansehen und Kriegsruhm.“ „Mit größeren Stämmen schließt man Bündnisse, kleinere Stämme werden unterworfen und tributpflichtig gemacht.“ Lellavo zwirbelte anerkennend seinen langen roten Bart: „Zweifellos. Man sieht, dass du mitdenken kannst, Euamellin.“
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