Wie immer freue ich mich über jede Anregung und jeden
Kommentar!
3. Rat und Beratungen
„Ja, die Nacht des nächsten neuen Mondes -
in Ubiacum. Dein Rat wird gehört werden. Keine Sorge, die Sippe des Staveno
wird dir in ihrem Haus Gastfreundschaft gewähren.“ Euamellin verabschiedete
sich höflich vom Stammeshaupt einer Familie der Ubier von der unteren Loneta
und stieg wieder aufs Pferd. Die angehenden jungen Krieger waren dabei, die
führenden Familien zu benachrichtigen, die auf ihrem Weg nach Westen lagen.
Euamellin musste die wichtigsten Gefolgsleute seiner Sippe persönlich einladen,
ebenso die Gastfreunde seiner Familie.
Währenddessen
war die Reitausbildung in Formation nicht zu kurz gekommen, insbesondere die
Flussübergänge. Haldavvo hatte alle nur vorstellbaren Möglichkeiten genutzt,
die Loneta täglich auf neue Weise zu überqueren: mit und ohne Sandbänke,
seichte und tiefe Stellen, mit oder ohne sichernde Postenketten, von flachen
Uferstellen aus wie von steilen; sandig, steinig oder erdig; bei gutem wie bei
schlechtem Wetter, Engpässe mit starker Strömung oder breite Stellen, wo der
Fluss nur träge dahinfloss. Nachdem es den Jungen immer besser gelang, die
Formation zu halten, wurde nun wenigstens häufiger auf relativ normale Weise
übergesetzt: War kein Feind zu erwarten, verstaute man die Waffen einfach auf
kleinen Flößen, die man mit dem Pferd schwimmend hinter sich herzog und dadurch
trocken hielt. So hatte Euamellin diesmal jedenfalls nicht erklären müssen,
warum er bei strahlendem Sonnenschein als tropfnasser Bote erschien. Er grüßte
zum Abschied und galoppierte voller Lebensfreude zu den anderen Reitern zurück.
Was für ein herrlicher Sommertag, dachte er, warm, ein leichter Wind und der
süßliche Duft der Lindenblüten. Übermütig ließ er sein lautestes Kriegsgeheul
ertönen, als er über die Felder dahinjagte: „Iiiii-Jajajajajajah!“ Dann reihte
sich wieder in die Hauptkolonne neben seine Freunde ein. Aus den Augenwinkeln
sah er jemanden auf Haldavvo zureiten. Er drehte sich um. Es war einer der
erfahrenen Krieger, die sie mit einigem Abstand begleiteten, der jetzt Meldung
machte.
Fiskja
folgte Euamellins Blick. „Warum haben wir eigentlich überhaupt eine schwer
bewaffnete Begleitung dabei? Wir sind doch keine kleinen Kinder mehr und
außerdem selbst schwer bewaffnet.“ „Gute Frage, zudem sind wir mit den
umliegenden Stämmen befreundet, ganz besonders mit den Treverern gegenüber
unserem Stützpunkt mit den Werften“, stimmte ihm Euamellin zu. „Bei
Vagdavercustis! Wie naiv bist du denn?“ mischte sich Sakjo ein, der sich von
hinten genähert hatte. „Kaum zu glauben, dass du aus einer der bedeutendsten
Familien Ubiacums stammen sollst! Ein Freund ist nur ein Feind, der einen noch
nicht angegriffen hat. Darauf muss man immer achten, nur so kann man einen Stamm
richtig führen. Ein echter Adliger weiß das. Deshalb sitzt meine Familie auch
seit Urzeiten im Ältestenrat Ubiacums.“ und mit einem geringschätzigen Blick
auf Fiskja fügte er hinzu: „Dass so etwas ein einfacher »Fiskja« nicht
versteht, Sohn eines kulturlosen Sueben, der sich nicht einmal eine vernünftige
Ausrüstung leisten kann, das ist natürlich mehr als verständlich.“ Fiskja lief
rot an, seine Hand krallte sich um den Schwertgriff.
„Sakjo,
Sohn des Henakian! Du hast die Formation verlassen. So machst du deinem Vater
keine Ehre!“, donnerte Haldavvos Stimme. Er war unbemerkt an die Jungen
herangeritten. Sakjos Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass er sich ertappt
fühlte. Dennoch zögerte er, seinen Platz sofort wieder einzunehmen. „Was ist?
Was glaubst du eigentlich, warum wir das hier machen? Diese Übungen sind mehr
als sinnvoll, da kannst du mir vertrauen. Also los, hinter der nächsten Biegung
geht es wieder ans andere Ufer. Da habe ich noch etwas Neues für euch. Den
Trick hat mir Snevemin persönlich beigebracht, der Sohn Battavos - wie auch die
meisten Techniken fürs Wasser“, verkündete Haldavvo stolz. Sakjo sah ihn
missmutig an: „Wieso müssen wir diese suebischen Übungen eigentlich machen?“,
entgegnete er trotzig, „Woher wissen wir überhaupt, ob wir dieser ehemaligen
Geisel trauen können?“ „Dass der Ältestenrat ihm voll und ganz vertraut,
beeindruckt dich wohl gar nicht, wie?“ knurrte Haldavvo. „Außerdem sind diese
Übungen nicht allgemein suebisch, die sind nicht einmal allen Chatten vertraut.
Der Kampf im Wasser wurde von der Sippe Battavos vervollkommnet. Wenn Battavos
Sohn Snevemin diese an uns weitergegeben hat, wie könnte man ihm nicht trauen?“
Als Sakjo ihn immer noch unverhohlen anstarrte, brüllte Haldavvo schließlich
verärgert. „Beim Raben der Vagdavercustis! Ich vertraue ihm, das muss reichen.
Und jetzt ab nach hinten, oder ich mach dir Beine!“ Nachdenklich
sah Euamellin Haldavvo an. „Es erfüllt mich mit Stolz, dass mein Vater mit dir
in Freundschaft verbunden ist. Aber kannst du mir erklären, wie er es
geschafft, dass ihm fast alle so grenzenlos vertrauen? Das würde ich gerne
erfahren.“ Haldavvo grunzte abwehrend. „Bitte Haldavvo, Sohn des Leubacio“,
fiel Fiskja ein und auch Sedavo bat: „Ja, erklär uns das, ich weiß nur, dass er
als Geisel kam, noch bevor die Chatten unter den Einfluss der Albis-Sueben
gerieten.“ Haldavvo ließ den Blick kurz über seine angehende Reiterformation
schweifen. Im Moment schienen sie alle folgsam die Formation zu halten. „Na
gut“, ließ er sich erweichen „Snevemin, des Battavo Sohn, kam als wichtigste
Geisel der Chatten zu uns, zur Besiegelung des alten Freundschaftsbundes. Der
Junge benahm sich immer sehr zuvorkommend und respektvoll zu allen Ubiern. Bei
den Kampfesübungen der angehenden Krieger dagegen gab es niemand, der ihm
gewachsen gewesen wäre. Das ist auch heute noch so. Seine Körperkraft, seine
Technik und sein Mut waren ohnegleichen. Dennoch hat er sich nie hochmütig
aufgeführt. Wenn er gegen mich gewinnt, sagt er heute noch, dass sein Sieg ein
Zufall war. Dafür hat er mir und den anderen Jugendlichen einige Tricks und
Kniffe beigebracht. Besonders gut beherrschte er das bei uns zuvor unbekannte
Schwimmen mit voller Bewaffnung, mit und ohne Pferd. Als er uns das zum ersten
Mal gezeigt hat, wären wir beinahe vom Pferd gekippt! Sakjos Vater Henakian
fiel tatsächlich runter, als er es das erste Mal nachmachen wollte.“ Haldavvo
musste lachen. „Hat sich dabei an einem Felsen ganz schön den Schädel verbeult,
deshalb geht er auch nie ohne Helm aus dem Haus.“ Dann lachte er erneut. „Wobei
manche sagen, dass sein Kopf vorher sogar noch hässlicher verbeult war als
nachher…“
Jetzt
kam Haldavvo erst richtig Fahrt. Er fand sichtlich Vergnügen am Erzählen, wie
Snevemin und er sich als angehende Krieger anstellten und Snevemin sich immer
besser in Ubiacum einfügte. Euamellin freute sich, wie respektvoll Haldavvo
über Snevemin sprach. „Nun ratet mal, wer damals der Einzige war, die diesen
»dahergelaufenen Sueben« zunächst noch abgelehnt hat“, wandte sich Haldavvo an
die Jungen. Euamellin und Sedavo zuckten mit den Achseln. „Henakian, des
Friatto Sohn?“, vermutete Fiskja. „Nein, wirklich nicht, eigentlich waren sie
damals sogar noch sehr gut befreundet“, wies Haldavvo zurück. „Da kommt ihr nie
drauf! Es war die Frau, die ihn Ubisch und andere keltische Dialekte lehren
sollte. Louba, Tochter des Staveno: Deine Mutter, Euamellin.“ Die Jungen ließen
ein erstauntes Raunen hören. „Man hat die beiden doch sicher gezwungen zu
heiraten, wie üblich?“, fragte Fiskja. Wieder lachte Haldavvo lauthals auf.
„DIESE beiden Turteltäubchen? Ganz im Gegenteil! Zuerst haben sie sich ständig
gestritten, dass die Fetzen flogen. Aber je länger Loubas »Sprachunterricht«
andauerte, desto näher sind sich die beiden gekommen. Letztendlich haben sie
sich verliebt und zwar bis über den Kopf! Dein Großvater Staveno hat sich
gedacht, dass gute Kontakte zu den Chatten ganz nützlich sein könnten. So hat
er der ungewöhnlichen Liebesheirat gerne zugestimmt. Snevemin wurde offiziell
im Kreise der Ubier aufgenommen und durfte Louba zur Frau nehmen, unter dem
Jubel der meisten anderen Einwohner von Ubiacum.“ „Nur der meisten, nicht
aller?“, fragte Euamellin nach.
„Nun
ja, um Loubas Hand haben sehr viele Adligen angehalten und das nicht nur aus
Ubiacum. Von den Treverern haben sich auch einige vornehme junge Männer
aufgemacht, aus der Familie von deiner jetzigen Tante Masua; ebenso von den
Tencterern und Usipetern. Sogar Vindeliker waren darunter, selbst ein paar
Noricer und Sueben vom Albis. Die Tochter Stavenos, des einflussreichsten
Mannes der Ubier, das war natürliche eine überaus gute Partie. Ihr hättet sie
auch damals sehen sollen! Ihre Schönheit war gerade voll erblüht: Ihre Arme
waren weiß wie der Schnee, der in der Nacht fällt, ihre hellen und freundlichen
Wangen so rot wie der Fingerhut im Moor. Verließ sie abends das Haus des
Staveno, so leuchtete der Schimmer des Mondes auf ihrem edlen Antlitz …“ Die
Jungen sahen sich verblüfft an. War das da vor ihnen wirklich der biedere
Kämpfer Haldavvo, oder trieb ein Gott der Barden und Sänger seine Späße mit
ihnen und hatte sich nur als Haldavvo verkleidet? „…freudiger Stolz aus ihren
glatten Brauen. Auf der Wange hatte sie ein schelmisches Grübchen… Bei
Vagdavercustis! Was schaut ihr mich denn auf einmal so an?“ „Haldavvo, Sohn des,
Leubacio, du bist ja ein Dichter!“ würdigte Sedavo Haldavvos Beschreibung.
„Oder auch in Louba verliebt?“, murmelte Fiskja leise. Jetzt war es Haldavvo,
dessen Wangen so rot wurden, wie der Fingerhut im Moor. Ein wenig verlegen
zupfte er mit seiner großen schwieligen Hand den Kinnriemen seines Helmes
zurecht. „Jedenfalls“, beeilte er sich, schnell wieder zum eigentlichen Thema
zurückzukommen, „jedenfalls gab es eine Menge Freier. Damit es keinen Ärger
gab, ließ sich Staveno wieder etwas Besonderes einfallen. Schon als Richter war
er immer besonders einfallsreich gewesen. Er überließ einfach Louba die Wahl
und alle mussten feierlich schwören, den Mann, der sie schließlich bekommen
sollte, als Waffenbruder und Freund anzunehmen und ewiglich zu schützen. Als er
sie heiratete waren nur Freunde dabei; zähneknirschend zwar, aber doch…“ Wieder
wurde Haldavvo rot. „Ähm. Hm. Am meisten wird aber Henakian geknirscht haben.
Er hatte sich Chancen bei Louba ausgerechnet, weil die Sippe des Friatto den
zweiten Rang hinter der des Stavenos einnahm. Seitdem ist ihre zuvor recht enge
Freundschaft ein wenig abgekühlt.“
„Unverschämtheit!
Mein Vater soll mit diesem Sueben befreundet gewesen sein? Niemals!“, schrie
plötzlich Sakjo, der wieder nach vorne geritten war und offenbar gelauscht
hatte. „Schon wieder du“, dröhnte Haldavvo, „du kennst wohl keine Grenzen. Ich
werde dich wohl doch übers Knie legen müssen, bevor du zum Mann erklärt
wirst!“. Sakjo stieg die Schamröte ins Gesicht. „Das würdest du nicht wagen…
dem Zorn meiner Sippe kann keine Familie etwas entgegensetzen …“ Haldavvo
grinste über das ganze Gesicht. „Dir hat einfach viel zu selten einer eine
Ohrfeige gegeben.“ Sakjo zog ängstlich den Kopf zwischen seinen Schultern ein.
„Schau einmal um dich, Zorn deiner Sippe“, fuhr Haldavvo fort. „Siehst du etwa
einen deiner Knechte? Nein? Muss wohl daran liegen, dass ihr hier alleine zu
Recht kommen sollt und keine hier sind.“ Die anderen Jungen fingen an zu
grinsen, während Sakjo, der sich stets bemühte möglichst stolz auszusehen,
immer mehr in sich zusammenfiel. „Es wird dir kein Bewaffneter zur Seite zu
stehen. Wenn ich mich nicht irre, ist Euamellin zwar jünger als du, aber nicht
gerade kleiner. Niemand wird dich verteidigen noch es bedauern, wenn er dich
ordentlich verprügeln sollte. Na, Euamellin, hast du nicht Lust, auf die
kleinen Beleidigungen eine handfeste Antwort zu erteilen?“ Euamellin baute sich
drohend vor Sakjo auf. Dieser stieß seinem Pferd die Fersen in die Flanke und
zog beleidigt ab, begleitet von fröhlichem Gelächter der ersten Reihen. „So,
genug gescherzt“, meinte Haldavvo, „da hätte ich doch beinahe eine Gelegenheit
verpasst, euch über den Fluss zu treiben. Also los jetzt, einmal rüber und
zurück!“ Das ließen sich die Jungen nicht zweimal sagen. Schon jagte die
Einheit gemeinsam vorwärts: „Iii-Jajajajaoooh!“
„Das
ist eine Arbeit für die Knechte, nicht für uns!“, murrte Sakjo. Die Gruppe
hatte gerade bei einem Gehöft eines bedeutenden Schmiedes Rast gemacht. Nach
einer kurzen Partie Fechtübungen bekamen die Jungen eine Einführung in die
Pflege eines Kettenhemdes. Nach der Anleitung mussten sie ihre Kettenhemden
selber putzen und ausbessern. Die meisten schienen es zu genießen: Immerhin
konnte man endlich einigermaßen ruhig im warmen Gras vor den Hütten sitzen und
sich nebenbei von der Sonne bescheinen lassen. „Wozu hat man den seine Knechte,
wenn sie einem nicht die Waffen anreichen und auch in Stand halten?“ „Oh, ganz
ohne Stallknechte! Armer Sohn des Henakian!“, rief ihm Harimello höhnisch zu,
während er einen winzigen Drahtring zurecht bog. Der braungelockte Harimello
war der größte und der älteste der Jungen. Er hatte schon auf kleineren
Übungsritten Erfahrungen gesammelt und gelernt, selbst zu Recht zu kommen. Er
schien auch sehr stolz darauf zu sein. „Brauchst Du auch wieder einen Knecht,
um dir das Essen herrichten zu lassen, wenn Mama nicht da ist? Bekommt der arme
Kleine Schwielen an den Händen, wenn er selbst Wasser und Feuerholz holen
muss?“. Sakjo rutsche vor Ärger das Kettenhemd aus den Händen. „He Sakjo! Bei
allen drei Matronen Gavasiae, wie schaffst du es eigentlich dir jeden Morgen
die Riemen deiner Schuhe zuzubinden? So ganz alleine und ohne Hilfe?“
Sedavo
und Euamellin kicherten ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Fiskja stellte sich
mit seinem großen Körper jedoch ziemlich ungeschickt an. „Lacht ihr nur, aber
ich finde es ebenfalls sinnlos, das Kettenhemd stopfen zu lernen. Meine Familie
kann sich gerade einmal ein Pferd für mich leisten. Für so einen teuren
Metallschutz wird wohl nie Geld da sein. Es macht einfach keinen Sinn, mit so
etwas zu üben“ und er ließ einen tiefen Seufzer ertönen“. „Bei Nehalennia,
Fiskja! Jetzt warte es erst einmal mal ab“, versuchte Sedavo ihn zu trösten.
„Vielleicht machst du gleich in deinem ersten Feldzug reiche Beute. Oder du
tötest einen Gegner, der ein Kettenhemd trägt.“ „Ja, oder du findest einen
reichen Gefolgsherrn, der dich als Gefolgsmann damit belohnt“, ergänzte
Euamellin und hielt sein Kettenhemd hoch. „Kann doch sein, dass jemand
nachhilft.“ Sedavo schaute verblüfft zu Euamellin herüber: „Woher hast du
denn…“. Dann verfinsterte sich sein Miene urplötzlich und er flüsterte:
„Euamellin, ruf uns doch kurz zu, dass wir dir helfen sollen.“ „Aber die
anderen werden denken, dass ich nicht damit zu recht komme.“ “Nun mach schon,
bei den drei Matronen Amfratniniae! Schluck deinen Stolz runter, es ist ernst!“
Euamellin seufzte. „Na schön“, und etwas lauter: „Ich bekommen die Ringe
einfach nicht aneinander. Könnt ihr mir kurz helfen?“
Die
drei Jungen beugten sich kniend über Euamellins Kettenhemd. Auf ihre fragenden
Blicke legte Sedavo zuerst den Zeigefinger auf den Mund, dann begann er im
Flüsterton: „Erinnert ihr euch noch an die Schwimmprüfung, als Euamellin
beinahe abgesoffen wäre?“ Euamellin wurde rot und rieb sich die immer noch
schmerzenden Rippen. „Das war nicht meine Schuld, mich hat ein Stück Treibholz
getroffen.“ Sedavo schüttelte langsam den Kopf. „Habt ihr etwa schon einmal ein
Stück Holz gesehen, dass so etwas kann?“ Sedavo zeigte auf zwei Stellen am Seitenrand
von Euamellins Kettenhemd. An der ersten war ein kleines Loch zu erkennen, an
der zweiten steckte halb verborgen zwischen den abgenutzten Ringen noch ein
winziger Gegenstand aus Metall. „Bei allen Muttergottheiten Gavasiae, eine
Eisenspitze!“, entfuhr es Euamellin. „Pst, nicht so laut!“, herrschte ihn
Sedavo an. Fiskja dagegen gelang es, sich sichtlich unbeeindruckt zu geben.
Sedavo schaffte es schließlich nach einigem Hin- und Herdrücken die
abgebrochene Spitze herauszuziehen „Saß die vielleicht fest! Wäre das
Übungshemd nicht zu groß gewesen und hättest du die Seiten nicht
übereinandergelegt, dann wärst du jetzt nicht mehr unter uns, Euamellin, Sohn
des Snevemin. Von wegen Treibholz.“ Dann sah er ihm tief in die Augen. „Da hat
jemand nachgeholfen, und zwar mit Eisen. Wer weiß, wann er es wieder versucht.
Ich rate dir, pass auf dich auf!“ Euamellin wurde bleich und ließ das
Kettenhemd fallen. Suchend sah er sich nach Milmass um, in seiner Nähe fühlte
er sich immer sicher. Da er jedoch alleine zu Recht kommen sollte, hatte er
seinen Hund nicht mitnehmen dürfen. Ratlos und ein wenig entgeistert schaute er
seine Freunde an. „Aber wer würde denn bloß…?“ Da ließ die drei ein lauter
Pfiff herumfahren: „He, Euamellin“, rief Sakjo herüber und winkte, „sieht aus,
als hättest du doch zwei Stallknechte dabei. Kann ich mir die auch mal
ausleihen? Machen nach außen zwar nicht viel her, aber für niedere Arbeiten
scheinen die gerade so gut genug…“
Nachdem
die Nacht hereingebrochen war, saßen sie zusammen mit den Gefolgsleuten um
mehrere Lagerfeuer. Haldavvo hatte sorgfältig die Nachtwachen eingeteilt. Nun
stellte er sich direkt vor das Feuer, warf den Kopf in den Nacken und stampfte
kräftig mit dem rechten Fuß auf, wobei er mit der linken Faust ruderte. Sofort
eilten ein paar Krieger davon und kehrten mit Lederbeuteln zurück, die sie
sogleich auspackten. „Was ist denn nun schon wieder los?“, fragte Fiskja.
„Schon wieder Kampflieder?“ „Siehst du doch!“, erwiderte Sedavo. Ein paar wilde
Hornstöße durchstachen die Nacht. Die Leiern wurden angestimmt. „Nun mach schon
mit, alter Griesgram. Du weißt doch, was Haldavvo immer sagt: Wer nicht als
Einheit zu singen versteht, der versteht auch nicht, als Einheit zu kämpfen!“.
Schon schmetterten sie aus vollem Hals den »Stolz der Ubier«, und »Bruder
schließ‘ die Reihen«. Bei den rhythmischen Kampfliedern machte Haldavvo die
Runde und achtete persönlich darauf, dass niemand aus dem Takt kam. Danach
folgten noch einige ruhigere Lieder, die ihnen Stirros vorsang. Stirros war ein
Gefolgsmann Haldavvos, der nicht nur das Kriegshandwerk erlernt hatte, sondern
auch einen guten Barden abgab. Unter Harfenbegleitung sang er von Heldenmut,
Kampf und Tot, aber auch von Verrat und den unheimlichen Gestalten der
Anderswelt. Darunter war auch eine Sage aus Gallien, in der Menschen in
allerhand Tiere verwandelt wurden. Je später der Abend, desto unheimlicher
wurde die Geschichte. Eine Mutter verfluchte den eigenen Sohn, ein Mädchen
wurde aus Blumen erschaffen, um den Fluch zu brechen. Doch selbst diese
»Blumengeborene« beging schaurige Taten. Sie versuchte, ihren Mann grausam
umzubringen, für den man sie extra erschaffen hatte. Schließlich wurde sie in
eine Eule verzaubert, als Strafe für ihre Untreue. So konnte sie nur noch bei
Nacht einsam umher streifen und ihr Gesicht sollte nie mehr das Tageslicht
erblicken.
Als
der letzte Ton der Leider verklungen war, mussten sich die Jungen zum Schlafen
bereit machen. Sakjo war für die erste Nachtwache eingeteilt und stolzierte
hochnäsig mit der Lanze im Anschlag zu den wachhabenden Gefolgsleuten hinüber.
„Der hat ja auch noch Spaß daran!“, brummte Sedavo. „Soll er nur“, gähnte
Fiskja zurück, „dafür können wir uns in Ruhe hinlegen, ohne dass er uns stört.
Kommt, legen wir uns hin, ich bin hundemüde“. Damit ließ er sich auf der Erde
nieder und begann auch gleich zu Schnarchen. Euamellin legte sich zwischen
Sedavo und Fiskja. „Einmal so schnell einschlafen können wie Fiskja!“, murmelte
er eifersüchtig, während er seine Waffen ablegte. Er fror ein wenig. Für eine
Sommernacht war es ungewöhnlich frisch geworden. Er versuchte, eine geeignete
Schlaf-position im Gras zu finden. Ruhelos rutschte er hin und her und stieß so
immer wieder an sein Kettenhemd, Helm und Schwert. Der Boden war hart, kalt und
feucht. Fröstelnd versuchte er, sich in seine Decke zu kuscheln. Aber auch die
kam ihm klamm vor. Er musste wohl vergessen haben, den mit Bienenwachs
überzogenen Ledersack fest genug zu verschnüren. Oder hatte die Decke seit
gestern nicht genügend Zeit gehabt, richtig zu trocknen? Es wollte ihm einfach
nicht gelingen, einzuschlafen. Wer ihm wohl nach dem Leben trachtete? Oder war
die Eisenspitze nur ein Zufall gewesen, vielleicht auch nur ein Unfall? Über
ihm leuchteten die Sterne. Nur ein paar vereinzelte Wolken zeichneten sich am
blauschwarzen Nachthimmel ab. Er versuchte ein Sternbild zu erkennen. Das
machte sicher schläfrig, zumindest brachte es auf andere Gedanken. Doch jedes
Mal, wenn er sich einbildete, eine Figur zu sehen, schien diese einen Dolch
oder eine Eisenspitze zu zücken und nach ihm zu werfen und er wurde wieder
hellwach. „Kannst du auch nicht schlafen?“ Sedavo schlief also ebenfalls noch
nicht. „Ich kann mich nicht an die Sternbilder erinnern. Wenn Veleda hier wäre
oder Onkel Hristo, die könnten uns mehr über die Sterne erzählen.“ „Stimmt,
wenn Hristo zu erzählen anfängt, fallen jedem sofort die Augen zu.“ Alle drei
mussten kichern. „Fiskja, du bist ja auch noch wach?“. „Ja, jetzt wieder - aber
nicht mehr lange. Gebt endlich Ruhe, ich bin wirklich hundemüde!“
Zuletzt
wickelte sich selbst Haldavvo in seine Felldecke. Ein röhrender Schnarchton
zeigte an, dass er sofort in den Schlaf gefunden hatte. Euamellin merkte, dass
ihm jetzt sogar das Geschrei seiner Zwillingsgeschwister recht gewesen wäre,
die mit einem Wiegenlied Loubas wieder zum Einschlafen gebracht wurden. Das
entfernte Schnarchen von Haldavvo und den Gefolgsleuten war nur ein schwacher
Ersatz, fand Euamellin. Er versuchte sich von den Gedanken an einen Attentäter
und die Eisenspitze abzulenken, indem er noch eine Weile über die letzte Sage
nachdachte. Aber der Gedanke an Mord und Totschlag, Verfluchungen,
Verwandlungen und die Anderswelt war auch kaum besser. Vielleicht lieber die
Natur um sie herum betrachten? Die unheimlichen schwarzen Gestalten der nahen
Bäume konnten ihn auch nicht gerade beruhigen. Das Leuchten der Sterne tauchte
sie in ein geisterhaftes Licht. Sahen sie nicht aus wie Trolle, die ihre
laubbewachsenen langen Krallen nach ihm ausstreckten? Kamen sie langsam näher?
Nein, das bildete er sich sicher nur ein. Ein düsteres Stöhnen ließ ihn
herumfahren. Ach so, es war nur einer der Gefolgsleute, den Haldavvos
Geschnarche störte. Mit einem Ruck zog sich Euamellin die Decke über den Kopf.
Schon besser…
Plötzlich
schreckte ihn ein schauerlicher Schrei von den Bäumen auf. Da rief doch einer
nach ihm! Sofort sprang er auf und wollte sein Schwert ziehen, doch stolperte
er über seine Lanze, deren Ende Fiskja ins Gesicht schlug. „Bei Wodan! Spinnst
du oder was?“ „Da, dort in den Bäumen! Vielleicht ist es der Attentäter!“ „Was
für ein Attentäter denn? Da sitzt doch nur ein Vogel.“ Euamellin ließ sich
nicht so schnell beruhigen. „Ein Vogel? Das ist doch sicher ein Bote aus der
Anderswelt, der mich vor meinem Tod warnen will!“ „Anderswelt?“, gähnte Fiskja
gedehnt und rieb sich seine schmerzende Wange. „Blödsinn! Du hast zu viele
Sagen im Kopf! Oder glaubst du etwa tatsächlich, dass manche Vögel in der
Anderswelt bei den Toten sind, wenn sie nach dem Sommer wegziehen, ja?“ Fiskja
lachte kurz auf. „Hör mal“, versuchte Sedavo Euamellin zu beruhigen, „das ist
auch gar kein Zugvogel. Du brauchst kein böses Omen befürchten, das ist eine
Eule, ein Gefährte der gütigen Muttergottheit Gabia.“ „Und wenn es die
verzauberte »Blumengeborene« ist?“ „Die was?“, fragte Fiskja nach. „Wie du
wieder aufgepasst hast, Fiskja! Trotzdem: Das war nur eine Sage“, versuchte ihn
Sedavo zu beruhigen. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass die »Blumengeborene«
irgendwo da draußen ist, und einsam bei Nacht hier umherstreift?“ „Huhu!“ rief
es wie zur Bestätigung aus dem Baum. „Hört ihr? Es ist die Verfluchte, die
»Blumengeborene«, sie will mich holen, sie… AU!“ „Die kleine Ohrfeige müsste
ihn wieder beruhigen“, grinste Fiskja. „Danke.“ „Bitte, gern geschehen. Weshalb
eigentlich »Blumengeborene?«“ „Warum hast du denn vorhin nicht zugehört, wenn
es dich interessiert?“ „Du spinnst wohl, das war auf Keltisch! Abends will ich
schlafen, nicht lernen! Außerdem waren das einfach zu viel Namen und Verse.
Also sagst du es jetzt oder nicht?“ „Na schön, die Mutter ihres Mannes hatte im
Zorn den Fluch über ihren Sohn verhängt, dass dieser keine menschliche Frau
heiraten durfte.“ „Das ist mal ein komischer Fluch. Vielleicht wollte sie ihn
einfach nur schützen?“ Sedavo rollte mit den Augen. „Sehr witzig! In der Sage
war es jedenfalls ein schwerer Fluch, so gar keine Frau haben zu dürfen. Und so
nahmen sie die Blüten der Eiche, die Blüten des Ginsters und die Blüten des
Mädesüß. Daraus erschufen sie das schönste und anmutigste Mädchen, das jemals ein
Mensch erblickte. Also ich erzähle es am besten von vorn…“ Ein tiefes Knurren
ließ sie herumfahren. „Ah, Haldavvo, Sohn des Leubacio. Kannst du etwa auch
nicht schlafen?“ „Beim schwarzen Raben der Vagdavercustis! Gleich setzt es was!
Hinlegen und Schlafen habe ich gesagt!“
[…]
[Haldavvo
verlangt einen Erkundungsritt in schwierigstem Gelände. Euamellin muss eine
tief eingeschnittene Schlucht empor reiten. Doch nicht nur die Hrodmelloklamm
erweist sich als gefährlich. Wieder hilft jemand der Natur nach. Sedavo kann
Euamellin gerade noch vor einem Sturz in den Abgrund retten. Am Rhenos begegnet
er seinem Onkel Auvaljahn bei dessen Flotten- und Zollstützpunkt.
In
der Nacht des neuen Mondes treffen sich die die führenden Familien der Ubier in
Ubiacum und beratschlagen, was wegen der Suebengefahr zu tun sei. In der Hitze
der Diskussion stößt jemand Euamellin beim Bedienen, so dass er einen zornigen
Gast bekleckert. Dieser zieht blank, doch gelingt es Euamellin mit Hilfe von
dessen Sitznachbar, den Krieger zu beruhigen. Aber auch Sakjo wird geschuppst,
kann der Provokation jedoch nicht entgehen. Euamellin zögert nur kurz und kommt
seinem Intimfeind zu Hilfe. Knapp kann er einen Totschlag und eine blutige
Fehde verhindern, doch wird er am Kopf getroffen und sackt bewusstlos zusammen.]
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