Kapitel IV: Baiae
Diese Nacht schlief Rufus
sehr unruhig. Dabei hatte er doch absichtlich wieder nur Wasser zu sich
genommen, anstatt Wein. Aber jedes Mal, wenn ein Wagen vorbeifuhr, weckte ihn
das Rumpeln der eisenbeschlagenen Reifen und das Quietschen der Achsen. Lucius
schien das nicht im Geringsten zu stören. Er schlief wie ein Baby. Rufus musste
unwillkürlich an seine kleinen Geschwister, an seine Familie und Freunde in der
Heimat denken. Eine Träne kullerte ihm die Wange herunter. Sie fehlten ihm. Wie
es seiner älteren Schwester Veleda und seinem Freund Sedavo wohl als Geiseln
des Ariovistos erging? Vielleicht kam ihnen die Welt der Sueben ebenso fremd
vor wie ihm die Welt der Römer…
Als Rufus schließlich wieder einschlafen konnte, träumte er
vom »weinfarbenen Meer«, wie es in den Gesängen beschrieben wurde, die er beim
Unterricht des Crispus hatte lesen müssen. Gesehen hatte er das Meer bisher nur
ein paar Mal aus der Ferne, auf dem Weg von Gallien nach Rom. Doch war es ihm
dort irgendwie blauer vorgekommen. In seinen Träumen war das Meer viel wilder,
»schäumend« und »unermüdlich«; ganz so wie bei den seltsamen Vokabeln dieses
seltsamen griechischen Dichters Homer, den die Römer auswendig lernten. Eine
Welle spülte ihn fort und er fiel aus dem Bett. Eine Weile glaubte er noch den
salzigen Geschmack des Meeres auf der Zunge zu spüren, doch war es wohl eher die
starke Fischsauce vom letzten Abend.
[…]
[Über die Via Appia reisen Larcia mit den Kindern, Rufus, einigen bulligen
Leibwächtern und mit Gefolge sowie mit viel Gepäck nach Süden, zum Feriensitz der
Fabii Sangae]
Am dritten Tag bemerkte Rufus, wie sich die Luft
allmählich änderte: eine ganz besonders liebliche Mischung aus der Frische von
Kiefernduft und Meeresgeruch. Endlich - der salzigen Geschmack des Meeres auf
der Zunge! Jetzt wurde auch die Silhouette des Berges immer deutlicher, den
Lucius „Vesuvius“ genannt hatte. Drohend ragte seine Kegelspitze über sanft
abfallende Wiesen und Weinstöcke. Schließlich kam das Meer selbst in
Sichtweite. Und was war das für ein herrliches Panorama! Die ungewöhnliche
Klarheit des Sonnenlichts, das sich im Wasser spiegelte, war ein deutlicher
Gegensatz zum dichten Dunst Roms mit seinen abertausenden Feuerstellen und
unzählbaren Menschen. Zwischen vereinzelten Behausungen fiel sein Blick die
felsige Küste hinab in die tosende Brandung. Möwen nutzen die Aufwinde,
segelten empor oder stießen schreiend hinab.
Der Weg führte im Bogen zur Küste zurück, mitten durch
ein Wäldchen. Hinter einer gepflegten Parkanlage lag das Anwesen selbst. Es schien
ruhig in der Dämmerung zu lehnen, ein wenig wie eine Möwe, die zur Hälfte über
den Abhang der Steilküste gelehnt ihr eindrucksvolles Gefieder zur Bewunderung
aufspreizt: An ein mehrstöckiges Hauptgebäude schlossen sich zwei breite Flügel
an, die zum Meer hin terrassenförmig an Höhe abnahmen. Zwei Reiter lösten sich
aus dem Schatten der nahe gelegenen Ställe und ritten ihnen entgegen. „Wer das
wohl sein mag?“ „Der jüngere kommt mir bekannt vor - aber das ist doch – Marcus Caelius!“, rief Lucius überrascht aus. „Was macht der denn hier?“
[…]
Zauberhaft! Vom Anwesen der Fabier war Rufus schlichtweg
begeistert. Das Haus verfügte über eine eigene Therme, die von den berühmten
heißen Quellen Baiae‘s versorgt wurde. Von beinahe jedem Zimmer aus hatte man
einen fantastischen Ausblick über das Meer und die gesamte Bucht: Die cratera
– der Mischkrug. Deshalb also! Nur verkehrt herum, jedenfalls in
Blickrichtung von Land aus: An der Küste entlang nach rechts würde die
Gefäßwand über das Kap von Misenum nach Südosten verlaufen, den Standfuss
bildete die Insel Capri, über Surrentum und Stabiae verliefe die
gegenüberliegende Wand und der Küstenverlauf über Pompeii, Herculaneum, die
Griechenstadt Neapolis und Puteoli bis Baiae bildeten den oberen Rand.
Tagsüber zierten zahlreiche Segel die Bucht: Riesige
Handelsschiffe, meist voller Getreide aus Ägypten, die nach Puteoli segelten,
dem wichtigsten Hafen Italiens. Puteoli war eine Drehscheibe für den Handel,
vor allem für Tuch- und Töpferwaren, wie Crispus ihnen erklärt hatte. Doch das
wichtigste Handelsgut Puteoli’s war Puzzolanerde, ein Bestandteil des
wunderbaren Baumaterials opus caementicium: Steine, Sand und gebrannter
Kalk ergaben mit Puzzolanerde und Wasser ein Gemisch, das zu einer Art festem
Stein aushärtete, den man beliebig formen konnte. Ganze Schiffsladungen gingen
von hier in großen Frachtern in die Welt. Aber auch von Surrentum und Pompeii
herrschte ein reger Betrieb der Handelsschiffe und Fährboote nach Neapolis,
Puteoli und umgekehrt. Ab und zu konnte man auch ein paar der schlanken Trieren
vom Kriegshafen Misenum entdecken, die mit schäumenden Ruderreihen zwischen den
kleineren Fischerbooten kreuzten und Lenk- und Schuss-Manöver abhielten. Abends
sah man vor allem die bunten Segel der Fischerboote, die zum Fang ausliefen.
Nachts leuchteten ihre Bordlampen über das Meer wie hunderte kleiner
Glühwürmchen in einer lauen Sommernacht im Wald, während die Beleuchtung am
Küstenverlauf den Standort der Villen preisgab.
Über allem schwebte eine Atmosphäre der Ruhe. Die Hektik
der Stadt schien weit entfernt, noch viel weiter als alle Meilen nach Rom. Das
Feriendomizil der Fabier schien Realität gewordenes otium – eine
lebendige Personifikation des römischen Begriffes für Ruhe, Muße und
Freizeitbeschäftigung. Selbst Crispus machte langsamer beim Lehren: er kam
später zum Unterricht oder gab ihnen früher frei. Auch er schien sich am Golf
von Baiae zu entspannen. Crispus gab sich Mühe, passende Themen zum Ausblick
auf das azurblaue Meer und den klaren, hohen Himmel zu wählen, so wie die
Odyssee des griechischen Dichters Homer:
„…Städte unzähliger Menschen
gesehen und Sitten gelernt hat
und in der Ferne so viel
unnennbare Leiden erduldet,
seine Seele zu retten,
die Heimkehr von all seinen Freunden.
Aber die Freunde rettet‘
er nicht, obwohl er’s versuchte.
Denn sie schufen sich
selbst durch Frevel ihr eig’nes Verderben
Toren! Aber der Gott nahm
ihm den Tag ihrer Heimkehr… huuu“
„Aber Rufus! Das war doch schon fast richtig. Du brauchst
doch deswegen nicht gleich zu weinen!“ Crispus schaute ein wenig betreten zu
seinem schluchzenden Schüler hinüber, der sich an einer Übersetzung im
Hexameter-Rhythmus versucht hatte. Fabiulla legte ihm mitfühlend einen Arm um
die Schulter. „Ich glaube nicht, dass er deswegen weint. Du hast Heimweh, nicht
wahr? Wegen deiner Schwester und deinen Freunden und deiner Familie…“ Rufus
nickte stumm. Auch Fabia ging zu ihm und streichelte ihm über sein blondes
Haar. Lucius zögerte noch. Er schien peinlich berührt: Ein römischer Junge
durfte sich in auf keinen Fall von einem Mädchen trösten lassen, sonst galt er
als Weichling. Schlimm genug, dass Rufus selbst vor anderen Mädchen und sogar
Sklavinnen um Rat fragte und sie als ebenbürtig behandelte. „Aber Mädchen!“, griff
Crispus ein. „So eine Szene schickt sich nicht für einen angehenden Mann. Auch
wenn es zur Lektüre passt - in der Ilias weinen die Helden aus Wut, in der
Odyssee aus Wehmut – aber nur unter Männern! Lucius tröste wenigstens du ihn.“
Fabiulla warf ihm einen giftigen Blick zu. Lucius blieb unschlüssig stehen.
Crispus stand auf. „In Rom ist so etwas wichtiger, als du
vielleicht denken magst, kleiner Barbar: Ein Mann muss hier immer continentia
zeigen, Selbstbeherrschung über all seine Triebe: Ein Römer muss sich im
Griff haben, sonst wird es nichts mit seiner Karriere.“ „Mir doch egal, ich bin
doch gar kein Römer…huuu.“ Fabia hörte auf, ihn zu streicheln. „Aber ein
richtiger Gallier bist du auch nicht – hast du mir gesagt…“ „Ich weiß selbst
nicht genau, was ich für euch sein soll. Mein Vater ist ein Chatte, meine
Mutter eine Ubierin, mein Stamm ist weit entfernt und lebt wie die Kelten. Und
ich soll leben wie ein Römer?“ Crispus winkte die Mädchen zur Seite und bückte
sich zu Rufus hinunter, bis seine Augen auf derselben Höhe waren. „Wer bist du,
Rufus, vom Stamme der Ubier, von weit her aus dem Norden?“
Verwirrt hörte Rufus zu Schluchzen auf. Wer er war? Was
war das denn für eine Frage? Rufus, natürlich! Oder meinte Crispus etwas
anderes? Was für ein Mensch war er? Wenn er das nur selber genau wüsste… WER
Rufus war? WER Rufus sein wollte? WER Rufus sein würde? „Heureka – ich hab’s!“,
rief Crispus nach einer Weile aus. „Aber seid ihr nicht doch zu jung dafür?
Nein, das könnte vielleicht gehen – schließlich seid ihr neugierig und denkt
gerne nach. Ich werde euch also philosophia lehren - Philosophie! Dann
wird dein Heimweh dich bald nicht mehr beherrschen können, Rufus.“ „philosophia?
Was ist das?“ „Aus phílos – Freund und sophía – Wissen oder
Weisheit, nicht wahr?“ leitete Fabia den Begriff aus dem Griechischen ab. Rufus
hob skeptisch den Kopf. „Also Wissensfreund? Wie soll mir das gegen mein
Heimweh helfen?“ „Soso, wie dir das Streben nach Weisheit helfen kann, wunderst
du dich?“ Crispus lächelte nachsichtig und setzte sich wieder. „Damit sind wir
schon mitten drin: Die meisten Philosophen stellen erst einmal Fragen. Die sind
am Wichtigsten. Viele kommen auch zu Antworten. Es gibt ganze
Philosophenschulen, die lehren, wie man aus einem Sturm der Gefühle einen inneren
Ruhepol erzeugen kann und wie man zu einem glücklichen Leben findet.“ Die
Kinder bekamen große Augen. Philosophenschulen? Gingen erwachsene Männer noch
zur Schule? „Philosophie hat viel
mit Denken zu tun – während des Flügelschlags eines Vogels könnte Rufus mit dem
Verstand nach Hause reisen und sich bewusst machen, dass Menschen überall
gleich sind. Doch gibt es noch bessere Wege, sein Heimweh zu lindern, glücklich
zu werden. Aber fangen wir lieber von vorne an – ab Iove principium!“
Crispus‘ Augen blitzten voller Vorfreude. „Ihr werdet
euch wundern!“ Dann nahm er Rufus das Wachstäfelchen weg und hielt es nach
oben. „Was ist das?“ „Ein Wachstäfelchen?“ „Ja, aber was ist es, was es
zusammenhält?“ „Die Lederbänder natürlich!“ Fabiulla hielt die Frage
anscheinend für albern. „Mehr nicht?“ „Und der Holzrahmen - und das Wachs“,
ergänzte Lucius etwas verwirrt. Worauf wollte Crispus hinaus? „Leder, Holz,
Wachs - kann man damit nur ein Wachstäfelchen bauen?“ „Ja!“, schrie Fabiulla
trotzig. Crispus ließ sich durch ihr freches Verhalten nicht aus der Ruhe
bringen. „So wirklich? Nichts anderes ist aus diesen Materialien möglich?“
Fabia schlug sich mit der Hand auf die Stirn. „Doch: Fischer- oder
Jägerhütten!“ Jetzt wusste auch Lucius, was Crispus meinte: „Stimmt! Oder die
Zelte der Legionäre: Das Leder der Zeltplanen wird gewachst, damit kein Regen
eindringt und die Zeltstangen sind aus Holz…“ „Man kann aus dem gleichen
Material demnach unterschiedliche Dinge erschaffen.“ Zufrieden zwirbelte er an
seinem Bart. „Gut. Ich sehe schon so etwas wie Verwunderung in euren
Gesichtern. Wir sind also auf dem richtigen Weg. Und jetzt…“ Crispus machte
eine gedankenschwere Pause, „was ist es, was die Welt im Innersten
zusammenhält?“ Stille. Keiner wusste darauf eine Antwort. „Woraus besteht die
Welt? Jeder von euch soll darauf eine eigene Antwort finden, eine möglichst
kurze. Mit dieser Aufgabe, entlasse ich euch für den Rest des Tages!“
Crispus‘ Schüler hatten schon zuvor gestaunt, doch jetzt
klappte ihnen der Mundwinkel herunter. Verwundert starrten sie auf ihren sonst
so strengen Lehrer. An einem Vormittag hatte er ihnen noch nie für den Rest des
Tages frei gegeben. War nicht omnia vincit labor immer sein Motto
gewesen – anstrengende Arbeit siegt über alles? „Nun da staunt ihr, oder?“
Vergnügt kicherte Crispus in sich hinein. „Nun, Staunen ist auch wichtig. Aristoteles
schreibt, das Staunen sei der Anfang allen Philosophierens gewesen. Die
Fähigkeit, uns zu wundern ist das einzige, was wir brauchen, um gute
Philosophen zu sein. Der Mensch findet es seltsam, zu leben, dass die
philosophischen Fragen ganz von alleine kommen - so jedenfalls Aristoteles.“
Dann presste er seinen Zeigefinger auf den Mund, während
er rücklings aus der Bibliothek schritt: „Denkt daran, möglichst kurz, am
Besten nur ein einziges Wort - jeder für sich alleine!“ und in geheimnisvollem
Flüsterton fügte er kaum hörbar hinzu: „Wundert euch nicht zu sehr, wenn ihr
als Antwort auf mehr Fragen kommt, als zuvor.“
[…]
[Nach erfolglosem Grübeln beschließen die Kinder, sich eine Pause am
Meer zu gönnen – in Begleitung ihrer Leibwächter. Rufus lernt einige römische
Spiele und ein paar Geschichten kennen: Die vom jungen Gaius Julius, der den
Piraten Paroli bot, die ihn entführten, sie auf eigene Faust jagte und fing.
Und die vom General Pompeius, der mit riesigem Heer und gewaltiger Flotte das
gesamte Mittelmeer von der Piratenplage befreite].
Am Abend waren sie alle hundemünde. Unter dem Protest von
Thrax, der schließlich doch mit ins Wasser gekommen war, hatte Rufus seine
Schwimmstile vorgeführt. Lucius kannte nur den Ansatz des Wechselzugstoßes,
Rufus viel mehr, wie den »Froschstil«: „Sehr nützlich, wenn man ganz leise auf
ruhigem Gewässer schwimmen muss, unentdeckt vor Feinden“, hatte Rufus erklärt,
„zum Beispiel auf einem See.“ Zunächst nur mit Trockenübungen am Strand hatte
er Lucius zum Mitmachen gewinnen können, dann wollte Fabiulla unbedingt mit ins
Wasser und zuletzt hatte selbst Fabia ihre Vorbehalte über Bord geworfen und
schwamm mit großem Vergnügen.
Trotzdem fand Lucius am Abend nicht in den Schlaf. Rufus
kam es so vor, als ob er sich eine ganze Weile ruhelos hin und her wälzte.
Rufus war ebenfalls noch wach. Während unter ihnen die Wellen an die Klippen
rauschten, musste er an zu Hause denken: an seinen Schwimmunterricht bei seinem
Vater Snevemin, dem Sohn des Battavo. Und an seine Schwester, die als Frau bei
den Ubiern viel geachteter und selbstbestimmter leben konnte als jede römische
Frau - selbst als Geisel unter den Sueben. Ein komisches Volk, diese Römer. Wie
es Veleda jetzt wohl ging? Und seinen Freunden, dem starken Fiskja und dem
nachdenklichen Sedavo? Immerhin waren seine Erinnerungen an diesem Abend nicht
so schmerzlich wie sonst. Ob es mit dieser »philosophia« zu tun hatte? Was
hatte es damit eigentlich genau auf sich? Woraus besteht die Welt - wie ihn das
über sein Heimweh hinweg helfen konnte?
Wenigstens war Lucius endlich eingeschlafen. Doch was war
das? Im fahlen Mondenschein, der in vereinzelten Strahlen durch die Lamellen
der Holzläden drang, bewegte sich doch etwas. Unhörbar war Lucius aus dem Bett
geglitten. Jetzt drehte er noch vorsichtig Decke und Kopfkissen ein, so dass es
aussah, als ob er noch im Bett lag und schlief. Auf Zehenspitzen schlich er zur
Türe und hielt sie mit beiden Händen fest, damit die Holzangeln nicht
quietschten. „“Wo willst du denn hin?“ Erschrocken drehte sich Lucius um. „Äh,
ach du bist es nur.“ Dann grinste er. „Sagen wir, ich habe eine kleine
Verabredung mit den sieben Weisen.“ Behutsam machte öffnete er die Türe. „Jetzt?“
„Pst! Du weckst noch jemanden auf. Aber wenn die Natur ruft…“ „Du hast doch bisher
noch nie nachts gemusst. Du hättest auch das lasanum als Nachtgeschirr nehmen
können. Und überhaupt, seit wann bastelt man Decke und Kissen als Schlafpuppe
zurecht, wenn man nur aufs Klo geht?“ Lucius stöhnte. „Na schön, komm mit, aber
sei leise, beim Merkur!“
Mit gedämpften Schritten schlichen sie durch die schier endlosen
Korridore und Säulengänge des Anwesens, immer bereit beim leisesten Geräusch in
Deckung zu gehen. Seltsam, bei Tag war ihm das Haus nicht entfernt so groß vorgekommen.
Und auch nicht halb so unheimlich. Als sie um die nächste Ecke bogen, sprang er
vor Schreck in die Höhe. Eine Gestalt mit weit aufgerissenem Maul und spitzen
Zähnen schien sie bereits erwartet zu haben. Rufus wäre ihr beinahe direkt in
die offenen Arme gelaufen. Auch Lucius war starr vor Angst. Die Gestalt rührte
sich jedoch keinen Fingerbreit und blieb stumm. Dafür funkelte sie wild mit
ihren Augen. Nach ein paar Augenblicken begann Lucius zu grinsen. Dann tätschelte
er zärtlich die Schlangen, welche die Figur anstelle von Haaren trug. „Guten
Abend Medusa, da hast du uns ganz schön erschreckt“, flüsterte er. „Immerhin
hast du niemanden von uns versteinert, altes Mädchen.“ Als er die Medusa näher
betrachtete, erkannte es auch Rufus. Puh! Nur eine Statue. Da man als Augen
kostbare Steine hinter einer Perlmuttschicht eingelegt hatte, glitzerten ihre
Augen im Mondlicht bei jeder Bewegung.
Hoffentlich schien der Mond nicht zu hell. Doch konnten
sie die Leibwächter problemlos umgehen - Lucius wusste genau, wo sie Wache standen.
Immer wieder glaubte Rufus erneut, man habe sie erwischt. Es waren jedoch nur
weitere Statuen, die ihnen aufzulauern schienen - lebensgroß und täuschend echt
bemalt. Rufus spürte ihre glitzernde Blicke
im Nacken, als würden sie die beiden Jungen genau beobachten. Schließlich blieb
Lucius vor einer Türe im Nordflügel stehen. „Abgeschlossen!“, flüsterte er.
„Warum fragst du nicht den Vorstand der Haussklaven?“, schlug Rufus vor. „Bei
Minerva, du bist wohl verrückt geworden! Damit der meinem Bruder sofort erzählt,
dass ich in seinen Privatangelegenheiten herumwühlen will? Da kann ich Gaius
auch gleich den Krieg erklären.“ Lucius hielt sich die Hand ans Kinn und dachte
nach. Dann lächelte er. „Macht aber nichts.“ Er drehte sich um und schlich den
Gang wieder ein paar Schritte zurück. Vor einer Statute mit Flügelschuhen bückte
er sich: »Mercurius«. Ob Lucius den windigen Gott der Händler und Diebe bitten
wollte, ihm die Türe zu öffnen? Oder nur vorsichtshalber, wenn er erwischt
wurde – für die Versöhnung unter Feinden war Merkur ja ebenfalls zuständig?
„Seltsam.“ „Was denn?“ „Er ist nicht da – den
Ersatzschlüssel zu Gaius‘s Zimmer meine ich.“ „Wieso sollte da denn ein
Schlüssel sein?“ „Na ich weiß doch, wo mein Bruder ihn versteckt. Früher durfte
ich immer an seine Sachen. Ich fand es gemein, dass er ein eigenes Zimmer
bekommen hat, seitdem er zum Mann erklärt wurde – und da habe ich ihn
beobachtet.“ Lucius zeigte auf eine Stelle auf der Rückseite des Sockels, an
der eine kleine Höhlung klaffte. „Sieh doch: Die Basis ist hinten ganz staubig.
Nur um diese kleine Vertiefung herum fehlt der Staub. Der Deckel ist ebenfalls
fast staubfrei. Du weißt, was das bedeutet?“ „Ja, dass eure Sklaven in Baiae
ihre Arbeit lockerer sehen. Hier hat lange niemand gewischt.“ „Aber nein, bei
Apollo! Das bedeutet, dass hier erst vor kurzem jemand den Schlüssel
herausgeholt hat.“ „Ja und? Was ist denn daran verwunderlich? Der Reiter den
wir getroffen haben, der hat doch gesagt, dass er ein paar Sachen für Gaius abgeholt
hat.“ Lucius‘ Augen blitzten. „Marcus Caelius Rufus, der beredte Verführer und Gaius
Cornelius Cethegus, der brutale Schläger? Meinst du etwa, Gaius sagt solchen
Leuten, wo der Schlüssel liegt, wo er doch seinem eigenen Bruder nicht mehr vertraut…?“
Mit metallischen Zischen fuhr ein Schwert aus der Scheide:
„Halt wer da?“ Die massige Gestalt von Thrax baute sich vor den Jungen auf.
Trotz seiner beeindruckenden Größe hatte er sich lautlos heranschleichen
können. Rufus war beeindruckt. „Ach ihr seid es. Was macht ihr hier?“ Lucius
atmete tief durch, nach dem ersten Schreck. „Ach nichts, nur ein wenig
umherwandeln.“ Thrax hielt den Kopf schräg und kniff ein Auge zusammen. „Jetzt
– mitten in der Nacht?“ „Wir konnten nicht schlafen und da habe ich Rufus die
Geschichten der Statuen erzählt.“ Rufus gähnte. „Siehst du? Hat schon gewirkt.
Dann können wir ja wieder schlafen gehen.“ Verwundert blickte Thrax ihnen
hinterher und kratzte sich am Kopf.
[…]
[Am nächsten Morgen...]
Als Rufus und Lucius das Studierzimmer betraten, saßen
die Mädchen schon in ihren Korbsesseln. Anstatt sie jedoch ungeduldig zu
erwarten, hatte Crispus seinen Sessel zum Fenster geschoben und lehnte gemütlich
mit den Füßen auf dem Fenstersims, während er die Hände hinter dem Kopf
verschränkt hatte. Versonnen blickte er auf das Meer hinaus. Wenn Staunen zu
erregen für die Lehre der Philosophie wichtig war, so gab Crispus sein Bestes,
um dieses Ziel zu erreichen. So hatten die Kinder ihren Lehrer noch nie
gesehen. „Als aber Eos am Horizont erschien, die rosenfingrige, da lagen Lucius
und Rufus noch im Bett“, feixte Crispus. Langsam schob er seinen Sessel wieder
zurück. „Setzt euch! Mal sehen, was für Antworten euch eingefallen sind.“
„Nun denn, eine möglichst kurze Antwort zu: Woraus
besteht die Welt?“ Stille. „Irgendwas muss euch doch eingefallen sein. Lucius!“
„Menschen? Alles was zählt, sind Menschen.“ Crispus zwirbelte seinen blonden
Bart. „Eine schöne Idee, Sokrates und Diogenes könnten dir vielleicht sogar
zustimmen. Die kommen aber später und was wäre sonst mit all den andern Dingen
auf der Welt?“ Niemand entgegnete etwas. „Fabiulla, du hast doch immer etwas zu
sagen…“ „Menschen, Tiere und Pflanzen?“ „Hm, was wäre dann z.B. mit Steinen?“
„Gut dann eben Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine.“ Fabia grinste zufrieden.
„Seht ihr, die Lösung war so einfach!“ Crispus verschränkte die Arme. „Nicht so
schnell. Was ist mit Wasser?“ „Na gut, dann eben auch Wasser…“ „Und Luft? Und
Erde? Und Schwefel? Ich wüsste so noch viel mehr…“ Fabiullas Grinsen erstarb.
Nein, so war keine kurze Antwort zu erreichen. „Belebtes und Unbelebtes“,
schlug Fabia vor. Crispus erhob sich überrascht. „Gar nicht schlecht! Wirklich!
Und das von einem Mädchen!“ Fabiulla machte ein böses Gesicht. Fabia schien
solche Bemerkungen schon lange gewohnt zu sein, sie zeigte keine Anzeichen von
Verärgerung. „Aber geht es nicht noch kürzer, mit nur einem Wort?“ Stille. „Was
hat denn unser kleiner Barbar für eine Idee?“ Rufus schwitzte. Schnell, ein
kluger Einfall, sonst stand er als dumm da. „Geld“, brachte er schließlich
hervor. Crispus musterte ihn erstaunt. „Geld? Eine interessante Idee, vor allem
da sie von dir kommt. Mit Geld kann man alles kaufen, sogar Macht und Einfluss,
meinst du?“ Rufus nickte erleichtert. So genau hatte er sich das nicht
überlegt, aber wenn Crispus meinte... „Aber was ist mit den Tieren, die ohne
Geld auskommen und den ganzen Völkerschaften wie die Nomadenstämme?“ Rufus zuckte
hilflos mit den Achseln. „Vielleicht bist du schon zu lange unter Römern“,
kicherte Crispus. „Nun, unter griechischen oder phönizischen Händlern hätte es
noch schlimmer sein können, da würden dir sicher einige zustimmen…“ „Was stimmt
denn nun?“, fragte Fabiulla ungeduldig. „Das ist jetzt nicht wichtig.“
Verblüfft starrten ihn alle an. „In der Philosophie zählt nicht so sehr die
Antwort. Die Frage und die Überlegung sind viel wichtiger.“
Crispus setzte sich wieder in seinen Sessel und
verschränkte die Arme hinter seinem Lockenkopf. „Die Philosophie…. Wenn ich
euch frage, wer die Welt erschaffen hat, dann würdet ihr natürlich antworten…?“
„Chaos, Gaia und Eros!“, rief Fabiulla schnell.“ „Schön! Chaos, die gähnende
Leere des Raumes, dann Gaia, die Erde, und Eros, das Liebesbegehren – selbst
die Urgötter haben einen Stammbaum… Die Epen von Hesiod und Homer, die uns die
Ursachen der Welt lehren - Götter, die Menschen wie Spielzeug benutzen… Im
Mythos kennst du dich wirklich gut aus, Fabiulla.“ Sie lächelte freudig. „Aber
überlegt einmal kurz: Habt ihr Chaos und Gaia schon einmal am Werk gesehen,
oder einen anderen der unsterblichen Götter?“ Die Kinder dachten angestrengt
nach. „Iupitter“, merkte Lucius verunsichert an, „wenn er donnert und regnet
oder Blitze wirft?“ „Hast du ihn denn dabei gesehen?“ Verwirrt schüttelte Lucius
den Kopf. „Könnt ihr euch denn vorstellen, wie das genau funktioniert? Mit einem
Sturm, mit dem Regen, den Blitzen und den Wolken?“
„Thales konnte das. Thales von Milet gilt als Vater der
Philosophie. Ihr kennt ihn bereits aus der Mathematik.“ Lucius verzog das
Gesicht. „Der Satz des Thales! In einem Halbkreis sind alle Winkel am
Winkelbogen rechte Winkel…“ „Schön Fabia, aber heute wollen wir uns den
Philosophen Thales betrachten, nicht den Mathematiker – obwohl für ihn beides
dasselbe gewesen wäre.“ Crispus räusperte sich. „Für Thales war jedenfalls nicht
mehr die Willkür der Götter die Ursache für alle Vorgänge in der Welt. In einem
Sturm steht nach Thales nicht Iupitter persönlich, der die Luftmassen schiebt
oder gar Blitze aus seiner Ägis schüttelt und Wolken presst, bis sie regnen. Thales
vermutet, dass schlicht unterschiedliche Temperaturen ausgeglichen werden, so
wie im Hypokaustum warme Luft die kalte mit Wucht verdrängt. Blitze entstehen
durch Reibung, wenn Wolken auseinanderreißen, Wolken regnen, wenn sich zu viel
Wasser in ihnen sammelt.“ Verblüfft sahen sich die Kinder an. So hatten sie die
Welt noch nie betrachtet. Konnte das wirklich wahr sein? Wozu brauchte man dann
überhaupt noch Götter? Crispus schien ihre Bestürzung zu bemerken: „Keine
Angst, ich lehre euch nicht, gottlos zu sein. Kein Römer frevelt gerne“,
grinste er, „nicht einmal ein Grieche wie ich. Auch Thales glaubte an die
unsterblichen Götter: »Alles ist voller Götter«, soll er gesagt haben. Der
Ursprung allen Seins, war für ihn göttlich, der Urgrund aber ein rational
erkennbarer Urbaustoff, der nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten der Natur zu
allem anderen zusammengefügt werden kann.“ Rufus machte große Augen. Ein einziger
Urbaustoff, aus dem alles besteht? Was konnte das nur sein?
„Nach Aristoteles war Thales der erste, der nach dem
Urgrund aller Dinge suchte, nach einem einzigen Grundelement für alles Seiende.
Und er war der erste, der versucht hat, Gesetze der Natur zu finden und
festzuhalten: Gesetze, die überprüfbar und beweisbar sind. Die Philosophen sind
seit Thales nicht mehr von zufälligen Beobachtungen der Natur abhängig. Sie
stellen genau Regeln für gleiche Abläufe auf. Deshalb nennt man die ersten
Philosophen auch »Naturphilosophen«.“ Was ist jetzt aber für Thales der Urgrund
aller Dinge?“, platzte es aus Rufus heraus. Vergnügt blinzelte im Crispus zu:
„Woraus besteht alle Nahrung? Woraus alles Belebte? Woraus Nebel, Regen und Meer?“
[…]
„Lucius!“, flüsterte Rufus plötzlich, als sie schon im
Bett lagen. „Das ist doch jemand!“ Vorsichtig stieg Rufus aus dem Bett, griff
sich das Nachtgeschirr und schlich hinter die Tür. Er machte Lucius ein
Zeichen, ihm zu folgen. Leise knarrend öffnete sich die Tür einen Spalt. Rufus
hob den Arm mit dem Nachttopf, Lucius riss die Türe auf und sprang zur Seite.
Niemand. Mit dem Windstoß schlug die Tür wieder zu. „Ich war mir so sicher,
dass jemand hinter der Tür steht. Ich habe schon fast seinen Atem gespürt.“
Lucius gähnte. „Das war nur der Wind. Ich habe dir doch gleich gesagt, dass wir
die Fenster besser zu machen. Bei dem Durchzug kann man sich leicht täuschen
und alles Mögliche glauben, was gar nicht da ist.“ „Oder auch etwas nicht
bemerken, was da ist“, verteidigte sich Rufus. „Wenn da jemand gewesen wäre,
hätten wir auch glauben können, dass es nur der Wind war. Denk an Parmenides: »Alle
Sinneseindrücke sind Täuschung«. Immer besser, nachzusehen.“
„Hm…“ Lucius rieb sich nachdenklich das Kinn. Rufus
schlurfte wieder zu seinem Bett. „Sinneseindrücke sind wirklich unzuverlässig.
Weißt du, in der ersten Nacht bei euch zu Hause, da habe ich allerhand wirres
Zeug geträumt, von dem Suebenkönig, der mich entführen ließ, vom Krieg der
Römer gegen die Allobroger und vom Schwert des Luernios. Einen Moment lang
wusste ich nicht, ob ich noch im Traum kämpfe oder im Zimmer stehe und jemandem
einen Fausthieb versetze, der »Ai« schreit.“ Lucius blickte ihn verwundert an.
„Wo hast du ihn den erwischt?“ „Die Traumgestalt? Mit rechts, also
wahrscheinlich unter dem linken Auge. Ein komische Sache übrigens, ich hätte
schwören können, dass das Schwert nach meinem Traum wieder an der Wand hing, obwohl
ich es nicht gesehen habe, als ich ins Bett ging. Catugnatos, Ollugnio und
Crixos hatten es schon im Allobrogerzimmer vermisst. Aber am Morgen hing es an
der Wand, als wäre nichts gewesen. Außer, dass Blut auf der Schneide war… aber
was hast du denn?“ Lucius war auf einmal sehr blass geworden. Dann schritt er
energisch Richtung Tür. „He, wo willst du denn hin?“ „Zum zweiten Mal in
denselben Fluss steigen – komm mit!“
Leise schlichen sie durch die Korridore entlang. Rufus
fand die Statue der Medusa mit ihrem stechenden Blick immer noch gruselig, vor
allem jetzt da der Wind um das Haus heulte. Fabiulla hatte ihm den Mythos
erzählt: Medusa war einst sehr hübsch gewesen, doch hatte sie die Göttin
Minerva erzürnt, die sie mit Neptun in ihrem Tempel erwischt und sogleich
verwandelt hatte. Schlangenhaare, Flügel und lange Eckzähne: Ihr Blick ließ
jeden Mann zu Stein erstarren, selbst noch nachdem der Held Perseus ihr den
Kopf abschlug. Böse funkelte sie ihn aus ihren Glitzeraugen an. Hatte sie sich etwa
gerade bewegt? Täuschte er sich oder stand sie heute anders auf ihrem Podest?
Er versuchte sich mit dem Philosophen Parmenides zu beruhigen: Alle
Veränderung, die wir glauben, mit unseren Sinnen wahrzunehmen, ist nur
Täuschung. Trotzdem…
Schließlich winkte ihnen der Gott Merkur mit dem Flügelstab
der zwei Schlangen. „Und jetzt?“ Lucius beugte sich über die Flügelschuhe.
„Dass der Schlüssel fehlen soll, ist nicht logisch. Warum sollte Caelius ihn zu
Gaius nach Rom bringen? Gaius hat doch schon einen, bei sich, in seinem Zimmer.
Wenn er nach Baiae kommt, bringt er ihn immer mit. Der hier sollte nur für
Notfälle sein, wenn er über Nacht länger weg ist oder wenn er vergessen hat,
den aus Rom mitzubringen. Sein Notschlüssel sollte also immer hier sein.“ Rufus
zog die Augenbrauen herunter. „Aber hier haben wir doch schon gesucht…“, wollte
er gerade widersprechen. „Heureka!“, unterbrach ihn Lucius. „Heraklit hat
Recht! Man kann tatsächlich nicht zweimal in denselben Fluss steigen!“ „Was?
Wie meinst du das?“ „Heraklit, der Philosoph! Jetzt habe ich ihn verstanden! Ich
habe zweimal nachgesehen, doch nicht zweimal mit demselben Ergebnis. So wie mit
dem Fluss: Steigt man zum zweiten Mal in den Fluss, hat er sich schon verändert
– und wir auch“. Rufus machte ein recht hilfloses Gesicht. „Na du weißt schon:
Das Wasser ist bereits weiter geflossen, man schwimmt schon in anderem Wasser,
oder was immer der Fluss mit sich schwemmt und…“ Lucius kratzte ein wenig auf
der Rückseite des Sockels herum, „… auch hier ein anderes Ergebnis.“ Mit einem
triumphierenden Lächeln holte er einen kleinen Bronzeschlüssel hervor. „Direkt
hinter der ersten Höhlung war eine zweite! Der Eindruck, den man bei
oberflächlichem Hinsehen bekommt, dass die Höhlung leer sei, ist tatsächlich
nur Täuschung!“
Ein gedämpftes Klacken, ein ächzendes Geräusch und die
Türe schwang auf. Rufus hielt den Atem an, als sie hinein huschten. Lucius
schloss sachte die Türe. Die Läden vor den Fenstern waren zugezogen worden, Rufus
konnte kaum etwas erkennen. Lucius öffnete die Fensterläden. Ein paar
Wolkenschleier wurden vom Wind über die blinkenden Sterne getrieben. Hinter
Wolkenfetzen ragte drohend der Vesuv in das Mondlicht. Der Hafen von Puteoli
und die Bucht waren in gespenstisches Licht getaucht. Ein kräftiger Windstoß drang
in das Zimmer und fegte ein Schreibtäfelchen von dem runden Tisch in der Mitte.
„Sie sind weg!“, rief Lucius entsetzt und begann, die Schränke aufzureißen.
„Wer?“ Rufus bemerkte mehrere Haken an den Wänden, die mit einem
Schlachtengemälde in gedeckten Farben verziert waren. Genau konnte er es im
fahlen Licht jedoch nicht erkennen. An einigen der Haken hingen griechische und
römische Helme, die im Mondlicht glitzerten. In einem offenen Regal standen
kleine Holz- und Tonsoldaten in Gruppen zusammen. Römer, Griechen und viele
andere. Ein paar sahen wie Kelten aus. In einer aufgerissenen Truhe sah Rufus
einen zusammengelegten Kettenpanzer glitzern. Die meisten Haken waren jedoch leer.
Die Schränke waren ebenfalls größtenteils leer, nur ein paar Kleider und
verschiedene Rüstungsteile: Kettenpanzer, Beinschienen und Helme, dazwischen waren
achtlos Papyri gestapelt und immer wieder Würfelspiele. Ein Haufen
gleichmäßiger Würfel mit sechs Seiten purzelte aus dem Schrank, in dem Lucius
herumwühlte, darunter aber auch stabförmige Würfel, Astragal-Gelenkknöchelchen,
solche mit acht und zwölf Seiten und sogar Würfelkreise, Würfelbecher und
Würfeltürme. Dazu jede Menge Kleingeld ohne größeren Wert: Ein paar asses
aus Kupfer, dupondii und semisses aus Messing und viele der
winzigen Kupfer-quadrantes. Seltsamerweise schien sich Lucius gar nicht
für die dazwischen gestopften Schriftrollen zu interessieren, die er sonst über
alles schätzte. Nur ein paar Täfelchen überflog er hastig: „Schon wieder ein
Schuldschein - mit seinem Siegelring darauf“.
Lucius sah unter dem Bett nach, dann tastete er
Kopfkissen, Matratze und Decke ab. Nichts. Mit einem verstörten
Gesichtsausdruck setzte er sich auf das Bett und legte den Kopf auf die Knie.
„Weg! Die ganzen Waffen sind weg!“ „Was für Waffen denn?“ „Die Sammlung. Gaius
wollte doch schon immer Soldat werden, ein großer Feldherr gar. Großvater
Allobrogianus hat ihm immer wieder etwas zum Geburtstag geschenkt. Schwerter
großer Feldherren. Sein eigenes Schwert war auch darunter. Großvater hätte sich
sehr gefreut, wenn Gaius gleich Militärtribun geworden wäre, statt sich in
Rhetorik zu üben und im Tirocinium Fori vor Gericht als Lehrling abzumühen…“
„Schwerter großer Männer, waren die echt?“ „Das meiste sicher nicht! Gaius
hatte sogar einen »Adler des Marius«. Die kann man aber hier am Golf überall
kaufen. Die Griechen waren schon immer geschäftstüchtig. Ich möchte nicht
wissen, wie viele dieser gefälschten Feldzeichen – und Schwerter es inzwischen
gibt. Und wenn sie doch echt waren…“ Lucius schauderte „…dann wären sie noch
viel weniger etwas für mich. Was hat er nur mit den Waffen angestellt?“
Rufus dachte kurz nach. „Die Schuldscheine! Und dann die
ganzen Würfel... Vielleicht hat er die Waffen verkaufen müssen, um
Spielschulden zu bezahlen? Hoppla!“ Als
Rufus auf Lucius zuging, rutschte er aus und fiel der Länge nach hin. Verärgert
hob er das Ding auf: Er war über das Wachstäfelchen gestolpert, das auf dem
Tisch gelegen hatte. „Das ist nicht Gaius‘ Handschrift! Zeig mal her!“ Lucius
nahm das Täfelchen an sich. „Blabla…dankbar dafür… Zimmer und zugleich ein
wenig Privatsphäre bereit gestellt hast… Schreiben von dir mit Siegelring für
den Fall, dass… wenn deine Familie nicht hier… Da wir schon einmal hier waren…
gleich etwas von dir geliehen … über deinen Einsatz wird Sergius sicher sehr
erfreut sein!“ Mit einem Aufschrei ließ er es wieder fallen: „Sergius!“, stieß
er hervor. „Sergius! Cethegus und Caelius waren für Sergius unterwegs! Gaius
hat etwas mit Sergius zu tun!“ „Du meinst euren Architekten, Sergius Orata, der
die Dusche und die regulierbaren Becken für die Austernzucht erfand?“ Lucius
atmete schwer. „Nein! Nicht den Sergius. Der hätte wohl kaum Interesse an
historischen Waffen. Ich meine Lucius Sergius CATILINA!“
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