6. Geiseln
Da trat Veleda in den Ring. Voller Ehrfurcht vor der Seherin wichen die Sueben zurück. „Halt!“ Gimo ließ den Gürtel sinken. „Was willst du? Hat etwa eine Gottheit etwas dagegen, die Kleinen anständig zu erziehen?“ Doch hatte auch Gimo vor Veleda großen Respekt. Veleda stellte sich schützend vor ihren kleinen Bruder. „Nein, aber sicher Ariovistos, des Aginomello Sohn. Solltest du die Geiseln schlecht behandeln, verletzen oder gar töten, werden sie für deinen Heerkönig wertlos. Schlimmer noch, du hättest genau das Gegenteil seiner Absichten erreicht. Bedenke dies, oder ich brauche kein Orakel, um für dich ein ungutes Ende vorherzusehen.“
Euamellin hörte ein gequältes Stöhnen. Außerdem wunderte er sich, welche Stämme wohl diese »Germanen« seien. Er hörte den Begriff zum ersten Mal. Meinte Dumnorix die Sueben oder einfach alle Stämme, die keine Kelten waren? „Was passt dir daran denn nicht, Bruder?“ Euamellin hörte, wie Diviciacos auf und ab ging. „Oh Dumnorix. Immer diese Ideen von der Herrschaft über ganz Gallien! Deine Herrschsucht macht dich blind. Erst einmal sollte man nicht im Hause seines Gastgebers Pläne gegen dessen Stamm erörtern, vom Bruch des geheiligten Gastrechtes ganz zu schweigen. Dazu müsstest du selbst erkennen können, was es Catamantaloedes eingebracht hat, sich mit Ariovistos einzulassen.“ Dumnorix Stimme nahm einen verärgerten Tonfall an: „Und das wäre, weiser großer Bruder?“ Diviciacos seufzte und ließ sich schwungvoll auf die Truhe fallen. Euamellin spürte, wie die kleine Spinne aufgeschreckt auf Wanderschaft ging. Bloß nicht bewegen, dachte er, ja keinen Mucks! „Du siehst es wirklich nicht, oder? Ein Drittel des Landes der Sequaner ist nun von Germanen besetzt, Catamantaloedes ist nicht einmal mehr Herr in seinem eigenen Haus. Ariovistos geht darin ein und aus, wie es ihm passt und verteilt munter Geiseln unter die adligen Familien der Sequaner. Für diese tragen sie große Verantwortung – ob sie wollen oder nicht.“ Dumnorix brummte angewidert. „Du befürwortest also eine Allianz der mächtigsten gallischen Stämme gegen die Germanen?“ Diviciacos erhob sich. „Auch da sehe ich Probleme. Wie sollte uns Casticos denn dabei helfen, solange Catamantaloedes auf die Germanen hört? Ist dir klar, dass Casticos dafür zuerst die Herrschaft seines Vaters an sich reißen müsste? Wie will er denn dabei vorgehen? Ihn töten?“ Dumnorix wurde aggressiv, während die Spinne inzwischen Euamellins Nase erreicht hatte. „Und was schlägst du vor? Die Römer anbetteln wie ein Hund? Ist das alles, was du kannst? Die haben dir wohl in den Kopf geschissen, deine Römer, als du bei ihnen…“ Ein gewaltiges Niesen aus der Truhe ließ die beiden Brüder zusammenfahren.
Diviciacos sprang von der Truhe herunter, als habe ihn Taranis persönlich den Hintern versengt. Dann herrschte einen Moment lang absolute Stille. „Da ist jemand in der Truhe!“ Euamellin schlug den Deckel auf und sprang heraus. Diviciacos und Dumnorix starrten ihn mit offenem Mund an. „Einer der Geiseln des Heerkönigs!“, bemerkte Diviciacos verblüfft. „Los, wir müssen ihn umbringen – er weiß zu viel!“, schrie Dumnorix. Euamellin wollte sich durch die Tür zwängen, doch hatte ihm Dumnorix rechtzeitig den Weg versperrt. Kalt lächelnd zog er einen Dolch aus seinem rotgelben Gewand und kam auf ihn zu. „Bruder, schnell, murks ihn ab! Aber was machst du? So halte ihn doch wenigstens auf!“ In einer einzigen fließenden Bewegung hatte Euamellin den Truhendeckel wieder heruntergeklappt, war darauf geklettert und von da zum kleinen Fenster hinaufgesprungen. Es war gerade klein genug, dass er zwar hindurch passte, die Männer aber nicht hinterher kommen konnten. Diviciacos hatte einfach so daneben gestanden, wie von Taranis gerührt und keinen Muskel bewegt.
„Los aufhalten, lasst den nicht entkommen! Zehn Goldmünzen für den, der mir den Kopf dieses kleinen Diebes bringt“, rief Dumnorix durch das Fenster den Wachen auf der Straße zu. Das war ein kleineres Vermögen! Während die Wachen noch entgeistert zu dem Haeduer aufblickten, der mit hochrotem Gesicht versuchte, seinen Körper durch das zu enge Fenster zu quetschen, handelte Euamellin blitzschnell. Er rannte auf einen Mann zu, der in der Mitte zwischen den Wachen ein Pferd am Zügel führte. Ein starker Tritt von hinten in die Kniekehle, wie Henakian es ihnen beigebracht hatte, und schon knickte dieser ein. Verblüfft entglitten dem Mann die Zügel. Mit einem Satz war Euamellin auf dem Rücken des Pferdes und jagte davon, dicht gefolgt von zwei Wachen zu Fuß.
Immer steiler wurde der Weg. Inzwischen waren sie bereits bis an die Ecke der Befestigungsmauer am Berg gelangt. Das Tor stand offen und war nur von einem Krieger bewacht, der friedlich im letzten Abendrot der untergegangenen Sonne döste. Euamellin zog die Zügel an und galoppierte hindurch. Plötzlich durchzuckte ihn ein brennender Schmerz. Der Reiter des Dumnorix hatte ihn am linken Oberarm getroffen. Ihm musste etwas anderes einfallen und zwar schnell. Hinter der Befestigungsanlage führte ein steiler Pfad auf die Mauer zwischen die Brüstungen, nur ganz unten gab es ein paar Treppenstufen. Euamellin kniff die Augen zusammen. Das müsste zu schaffen sein. Er trieb sein Pferd an, riss dann heftig an den Zügeln und hob ab. Sicher gelandet! Sein Verfolger hatte den Absprung verpasst und versuchte, jetzt sein Ziel von unten mit einem Lanzenwurf zu erledigen. Euamellin drehte sich zu einer Körpertäuschung, und jagte den Wehrgang entlang. Er hörte, wie die Lanzenspitze an seinem rechten Ohr vorbeipfiff, dann hatte er den Reiter endgültig abgeschüttelt.
Vor ihm hatten sich inzwischen mehrere sequanische Krieger versammelt und bedeuteten ihm, anzuhalten. Aber denen konnte er sich ja gerne ergeben. Mal sehen, was die zu den Plänen der Haeduer sagen würden. Vielleicht ließen sie ihn zum Dank frei? Jetzt musste er nur noch den Lauf seines Pferdes verlangsamen. Da vorne wurde es auch wirklich eng, die Gallische Mauer ragte hier an einer Engstelle mit ziemlichem Überhang über die Kante des Berges hinaus. In der Tiefe darunter rauschte der Dubis. Zum Zeichen, dass er keinen Widerstand leisten würde, hob Euamellin schon einmal die unbewaffneten Hände in die Höhe. Eine der Wachen kam herbeigelaufen, um ihm in die Zügel zu greifen. Mit einem schnellen Griff wollte er die Lederriemen packen, da scheute das Pferd und begann zu steigen. Mehrere der Krieger sprangen hektisch herbei und versuchten, es zu beruhigen, doch machten sie das Ross nur noch nervöser. Wild wiehernd keilte es mit den Vorderhufen aus. Euamellin hatte das Tier nicht mehr im Griff. Weitere Wachen kamen hinzu, um zu helfen und das Pferd festzuhalten. In die Ecke getrieben rutschte das Ross schließlich aus, schlidderte über die Brüstung und Euamellin stürzte mitsamt Pferd kopfüber in die Tiefe.
Um ihn herum sah es für Euamellin so aus, als würde ein Gott die Zeit anhalten und nur stückchenweise wieder preisgeben. Seine Haare flatterten so langsam im Wind, als würden hunderte kleine Geister sie in alle Richtungen zerren. Das langgezogene Wiehern des Rosses in Todesangst klang dumpf, tief und hohl. Vereinzelte Holzsplitter der Brüstung segelten über ihm in der Luft. Der Fall schien Ewigkeiten zu dauern. Die Tiefe kam unendlich langsam näher. In bedächtigen Drehungen überschlugen er und sein Pferd sich mehrfach. Als er nur noch wenige Fuß vom Dubis entfernt war, sah es so aus, als ob das Pferd auf ihm landen würde. Im allerletzten Moment schaffte er es jedoch irgendwie, noch auszuweichen und seinen Körper über das Ross zu bekommen. Dann nahm ihm die Härte des Aufpralls den Atem. Ein lautes Krachen, ein jämmerliches Wiehern, dann schien die Zeit auf einmal schneller dahinzueilen als gewöhnlich. Wie betäubt tauchte Euamellin in die reißenden Fluten des Dubis ein, der an dieser Stelle, tief eingeschnitten zwischen zwei Berge geklemmt, nur so dahinschoss. Verzweifelt versuchte er, im wilden Strudel Luft zu holen. Seine Lungen waren nahe daran, zu bersten. Er schaffte es einfach nicht, die Strömung war viel zu stark. Kurz bevor er sich zurück in die Tiefe ziehen ließ, spürte er etwas, das sich wie ein Biss am Hals anfühlte. Dann verlor er endgültig die Besinnung.
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