Die „Rufus“-Reihe soll jeder verstehen und genießen können, Jugendliche und Erwachsene, Studierte und Nichtstudierte. Wer sich im Roman auf fremde Welten einlässt, der wird auf unterhaltsame Weise ganz automatisch kennenlernen, was die damalige Zeit so alles zu bieten hatte - und lernt beim Lesen wie von selbst. Alles so authentisch und historisch korrekt wie möglich zu erzählen und dabei spannend zu bleiben, das ist mein Ziel.
Die „AMORES - Die Liebesleiden des jungen Ovid“ sind dagegen nicht immer ganz jugendfrei (wie auch die Originalverse Ovids und seiner Zeitgenossen). Der Laie kann sich über die „moderne“ Sprache & Handlung freuen, der Fachmann über zahlreiche Anspielungen und intertextuelle Scherze.
Auf dem Blog zeige ich einen Blick hinter die Kulissen. Dabei gebe ich auch Hintergrundinformationen über Politik und Alltagsleben der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Rom und einiger Kelten- und Germanenstämme.
Feste Probeleser aus verschiedensten Altersgruppen haben bereits die ersten Bände gelesen. Die Rückmeldungen setze ich um. Sehr gute Feedbacks kamen dabei nicht nur von Universitätsprofessoren und anderen Fachleuten sondern gerade auch von Schülerinnen und Schülern - vielleicht demnächst auch von dir? Gerne nehme ich jede gute Anregung auf (Rufus.in.Rom@gmail.com)...

Montag, 25. Februar 2013

6. Geiseln. Leseprobe aus "Donner im Keltenland"

Hier steht ein Auszug aus dem sechsten Kapitel von Rufus - Donner im Keltenland. Wer die bisherigen Leseproben noch nicht kennt, für den gibt es diese Links zum ersten, zweiten, dritten, vierten und fünften Kapitel.
Wie immer freue ich mich über jede Anregung und jeden Kommentar!
 

6. Geiseln

              […] Es umfing sie die lastende Kühle des Waldes. Ringsum hörten sie das vertraute Rauschen der Bäume, lediglich unterbrochen vom Hämmern eines Spechtes oder Ruf eines Kuckucks. Die Gegend war ähnlich bergig und waldig, wie er es von zu Hause hätte gewohnt sein müssen, auf Euamellin machte sie jedoch einen fremdartigen und feindseligen Eindruck. Sonnenlicht drang in langen Strahlen durch die Wipfel der Bäume und traf am Boden auf Laub, Moose und Farne, die vor Feuchtigkeit zu dampfen schienen. Der Untergrund wurde immer morastiger. Ein einsames Käuzchen sang ein trauriges Klagelied.
            „Jetzt ist die Vorhut doch vom Weg abgekommen“, vermutete Sakjo, der seit dem Abmarsch beständig die Nähe der anderen Jungen suchte. „Wir werden uns unweigerlich im Sumpf verirren und das war‘s dann.“ „Ach wo, Sakjo“, zog ihn Sedavo ein wenig auf, „kannst du etwa nicht den Bohlenweg erkennen?“ „Was für ein Bohlenweg denn?“, fragte Sakjo nach, da bemerkten sie auch schon am Klang der Hufe und dem Widerstand der Pferderücken, dass sie über abgedecktes Holz ritten. Verblüfft sprang Euamellin vom Pferd und sah sich den Weg genauer an. Von oben hatte man den Wechsel mit bloßem Auge kaum wahrgenommen. Auf den halbierten Baumstämmen, die quer über den Pfad verliefen, hatte man Heidegrassoden umgekehrt und als Deckschicht aufgelegt. Danach war der Bohlenweg wieder teilweise zugewachsen, so dass der Übergang verdeckt war. „Die Auflage bietet eine höhere Wegoberfläche als das Moor“, verkündete Sedavo fachmännisch. Euamellin kratzte ein wenig davon weg und ließ seine Finger über die Bohlenhölzer gleiten. „Für mich sieht das eher so aus, als wäre das Heidegras dazu da, dass man nicht ausrutscht. Außerdem sieht man gar keine Radspuren der Karren. Die Bedeckung muss die Hölzer auch vor Abnutzung schützen.“ Da ritt Gimo an sie heran: „He, ihr haltet ja den ganzen Zug auf! Warum steigt ihr ab, sind eure hübschen Keltenpferde schon müde? Es kommt eben nicht auf ein hübsches Äußeres an, sondern auf das Abrichten und tägliches Training. Oder haben die armen kleinen Reiterchen Angst vor dem bösen Sumpf? War ja klar, nur Muttersöhnchen benutzen einen Sattel! Vielleicht wollt ihr lieber warten, bis die anderen alle durch sind?“ Sakjo lag eine zornige Antwort bereits ganz vorne auf der Zungenspitze, doch Euamellin hielt ihn mit einem verschwörerischen Blick zurück. „Gute Idee! Wenn es recht ist kommen wir nach. So fühlen wir uns auch gleich viel sicherer. Dann können wir auch schneller machen.“ Gimo lachte auf. „Na, wenn man euch Kinderchen die Angst nehmen kann – gut. Tretet zur Seite!“ Sie ließen Gimo mit den Reitern passieren. „Euamellin, was soll denn das werden?“, flüsterte Sedavo. „Siehst du nicht, dass da hinten außer Gamo gar keine Reiter mehr folgen? Die Nachhut hängt ein wenig zurück, dazu besteht sie nur aus Fußsoldaten! Wenn wir schnell die Grassoden wegreißen, dann wird’s rutschig! Überleg doch: Wenn uns ein Pferd von der anderen verfolgen will, was meinst du wohl was dem im Galopp auf den nassen Weghölzern passiert? Wir sind doch hier direkt im Moor!“ Die anderen beiden staunten. „Bei allen drei Muttergottheiten Aufaniae – das könnte wirklich klappen! Schade nur, dass Veleda und die anderen Geiseln weiter vorne mit reiten...“ „Das schlimm, aber leider nicht zu ändern. Schlendert unauffällig ein wenig den Bohlenweg hoch. Dann verteilt euch so, als würdet ihr Pilze sammeln. Auf mein Zeichen zieht ihr so viel Heidegras ab, wie irgend möglich. Dann sitzen wir auf und versuchen an Gamo vorbeizupreschen. Da hinten, wo der Morast aufhört. Wenn alles gut geht, sehen wir uns morgen früh in Ubiacum.“

            Schnell waren die Heidegrassoden heruntergerissen. Die matschigen nackten Stämme darunter erweisen sich tatsächlich als ungeheuer rutschig. Fast elf Fuß breit, dass musste genügen. An den ersten Kriegern kamen sie gut vorbei, verblüfft starrten sie die zickzackschlagenden Jungen an. Das ging ja schon fast zu leicht, dachte Euamellin. Dann stellte er fest, dass sich noch ein weiterer Reiter in Gamos Nähe befand. Gamo bellte einen Befehl. Überrascht sah Euamellin, wie sich je ein Fußsoldat an die Mähne von Gamos und des anderen Reiters Pferd krallte. Euamellin trieb sein Ross an, was zwischen all den Bäumen nicht einfach war. Sedavo war jetzt kurz vor Gamo. Sakjo schoss noch an ihm vorbei. Reiten konnte er wirklich ausgezeichnet, dass musste Euamellin ihm lassen. Sie mussten nur noch irgendwie zwischen den Reitern hindurch. Das schien ein Kinderspiel, hatten sich doch die Sueben zusätzlich das Pferd mit je einem sehnigen Krieger beladen. Ihre kleinen Pferde trugen nicht einmal einen Sattel. „Los Sakjo, du schaffst das!“ Doch was war das? Fassungslos starrte er auf die gemischten Gespanne vor ihm. Die beiden Krieger mussten unglaublich gute Läufer sein! An der Mähne der Pferde hängend erreichten sie eine derartig hohe Geschwindigkeit, dass sie mit ihnen mithalten konnten! Die kleinen Suebenpferde waren doch sehr viel schneller und kräftiger, als sie geahnt hatten. Wie lange sie diese Taktik wohl hatten üben müssen? Der erste Reiter hatte es inzwischen geschafft, seinen Weg zu Sakjo so zu verkürzen, dass sein Begleiter den Jungen mühelos vom Pferd pflücken konnte. Darauf wendete der Reiter elegant sein Pferd und galoppierte in Richtung Euamellin, während Gamo mitsamt Mitläufer Sedavo den Weg abschnitt. Euamellin wendete seinen Hengst und versuchte sich stärker seitwärts durch die Büsche zu schlagen. Nach einer Weile stoppte er sein Ross hinter einem dichten Gebüsch und hielt vorsichtig Ausschau. Den ihm unbekannten Reiter hatte er sich gut vom Leib halten können, er machte ihn in weiter Ferne aus, wie er durch das Unterholz ritt und ihn zu suchen schien. Euamellin atmete tief durch. Puh, hatte er es doch noch geschafft… da blieb ihm auch schon die Luft weg und er hatte feuchtes Moos in Mund und Nase. Entgeistert starrte er auf den Fußsoldaten, der ihn unversehens vom Pferd gefegt hatte und nun im Schwitzkasten hielt. Dann erblickte er Gamo hinter ihm, der sich mit beiden Händen auf den bloßen Rücken seines Pferdes stützte. Deshalb benutzten die Sueben also keine Sättel! Die steifen Erhöhungen eines keltischen Sattels boten einem Reiter vorn und hinten einen stabilen Halt. Bei der speziellen Taktik der Sueben, wäre ein solcher Sattel dagegen hinderlich. „Darf ich vorstellen - Timo, einer meiner besten Läufer.“ Timo entblößte seine Zähne, was wohl als Lächeln gemeint war. „Ich habe ihn unterwegs aufgelesen, nachdem mein erster Kämpfer deinen Freund überwältigt hat“, erklärte Gamo. „Es war leichtfertig von dir, mich einfach so aus den Augen zu lassen. Unterschätze niemals einen Sueben!“
 
 
            Gamo ließ die drei Jungen stehend vor Gimo zerren. „Na, was habt ihr Kinderchen euch da nur gedacht? Dass ihr so einfach abhauen könnt, wie?“ Sakjo, Sedavo und Euamellin erwiderten nichts. Stolz und herausfordernd blickten sie ihrem Geiselnehmer ins Gesicht. „Und eure Schwestern hättet ihr einfach zurückgelassen? Ich muss schon sagen, nicht gerade sehr tapfer, selbst für einen Ubier.“ Sakjo ließ sich als erster reizen. „Das musst du gerade sagen! Frauen und Kinder als Geiseln zu nehmen und dann selbst vor Jungen wie uns so eine Angst zu haben, dass ihr uns alle Waffen abgenommen habt!“ Noch war Gimo amüsiert. „Das ist doch nur eine reine Vorsichtsmaßnahme, um euch zu schützen. Kleine Kinder lässt man nicht mit Messern und Feuer spielen, damit sie sich nicht verletzen. Ihr könnt noch nicht damit umgehen.“
            Euamellin war in seinem wunden Punkt getroffen. Erst hatte er seine offizielle Mannbarkeit wegen der Sueben versäumt, nun machten sie sich noch über ihn lustig. Das war zu viel. Wütend erhob er seinen Zeigefinger. „Ihr Sueben, ihr denkt, ihr könnt einfach alles, ja? Dabei könnt ihr noch nicht einmal richtiges Haeduisch. Wisst ihr, ihr habt einen furchtbaren Akzent! Hört sich einfach saublöd an!“ Das Lächeln in Gimos Gesicht erstarrte. Langsam stieg er vom Pferd. „Vorhin hat man euch beigebracht, wie die Sueben des Heerkönigs kämpfen. Jetzt bringe ich euch bei, wie man bei den Sueben freche Kinder erzieht.“ Sedavo wurde bleich. „Entweder ihr lasst euch brav den Hintern versohlen“, Gimo löste seinen Gürtel und ließ ihn durch die Luft sausen, „oder ihr stellt euch einem kleinen Kampf. Wenn ihr euch schon für so große Männer haltet, gern Mann gegen Mann.“ Die umstehenden Krieger lachten laut auf und begannen, einen Kreis um Gimo und die Jungen zu bilden. „Wer möchte zuerst?“ Gimo lief auf Euamellin zu. „Vielleicht der Frechste?“
            Da trat Veleda in den Ring. Voller Ehrfurcht vor der Seherin wichen die Sueben zurück. „Halt!“ Gimo ließ den Gürtel sinken. „Was willst du? Hat etwa eine Gottheit etwas dagegen, die Kleinen anständig zu erziehen?“ Doch hatte auch Gimo vor Veleda großen Respekt. Veleda stellte sich schützend vor ihren kleinen Bruder. „Nein, aber sicher Ariovistos, des Aginomello Sohn. Solltest du die Geiseln schlecht behandeln, verletzen oder gar töten, werden sie für deinen Heerkönig wertlos. Schlimmer noch, du hättest genau das Gegenteil seiner Absichten erreicht. Bedenke dies, oder ich brauche kein Orakel, um für dich ein ungutes Ende vorherzusehen.“
[In der Folge entwickelt sich eine Romanze zwischen dem jungen Suebenführer Gimo und Veleda – sehr zum Missfallen Euamellins. Ariovistos hat innerhalb Vesontios im Hause des Catamantaloedes, des langjährigen Herrschers der Sequaner, Quartier bezogen. Er lässt sich die hochrangigen Geiseln vorführen. Gimo setzt sich für Veleda und Euamellin ein, kann jedoch eine Trennung nicht verhindern. Sedavo und Veleda müssen mit Ariovistos von dannen ziehen, Catamantaloedes hat Interesse an einer Geisel, die zugleich Keltisch und Suebisch sprechen kann und dazu noch schreiben. So wird Euamellin dessen Sohn Casticos unterstellt.]
 
            […] Im kleinen Nebenraum im Haus des Casticos  war es still. Nur gedämpft drang der Lärm der Köche ans Ohr, die mit dem Anbraten von Rindergehacktem, in Salz eingelegtem Schweinefleisch und in Kümmel gesottenem Lachs sowie dem Bereitstellen von Wein, Met und Bier beschäftigt waren. Casticos war überhaupt nicht damit zufrieden gewesen, für seinen Vater eine Geisel in Empfang zu nehmen und hatte dies Euamellin deutlich spüren lassen. Mehrfach hatte er gedroht, ihn zu verprügeln oder Schlimmeres, sollte er Ärger machen. Ohne Veleda und seine Freunde würde der diese Geiselschaft nicht länger aushalten können. Nur gut, dass niemand mehr auf ihn geachtet hatte. Sobald im Innenhof die Vorbereitungen zu einem größeren Abendessen begonnen hatten, hatte er die Gelegenheit ergriffen und ein paar Amphoren geschultert. Da man ihn gleich befohlen hatte, sich gefälligst irgendwie nützlich zu machen, war er in dem Gewimmel so am wenigsten aufgefallen. Unbehelligt hatte er sich so einen Überblick verschafft: Die einzigen Wachen, die er entdeckt hatte, standen draußen an der Straßenseite des Hauses; gerade nahe genug, um Blickkontakt zu halten. Dann hatte er sich das ruhigste Zimmer gesucht, das er finden konnte, um sich zu verstecken. Nun saß Euamellin ruhig in einer großen Truhe und wartete, bis es dunkel genug wurde, um sich davonzuschleichen. Selbst die kleine Spinne, die er in der Truhe entdeckt hatte, ertrug er mit Gleichmut.
            Gerade als er sich davonmachen wollte, hörte er Geräusche und schloss den Kistendeckel über sich. Schritte. Jemand betrat ausgerechnet das kleine Abstellzimmer. „Casticos, der Sohn des Catamantaloedes, lässt bitten, euch noch ein klein wenig zu gedulden. Er wird euch gleich Gesellschaft leisten.“ Dann hörte man, wie die Tür sich wieder schloss. „Ich halte das immer noch für keine gute Idee, Bruder“, sagte nach einer Weile eine Stimme auf gepflegtem Haeduisch, „Diviciacos, Brüderchen!“, eine zweite. „Du willst mir doch nicht jetzt mit deinen religiösen Druidenbedenken kommen – oder?“ „Nein, die einfachen Bedenken eines scharfsinnigen Mannes reichen völlig aus, Dumnorix.“ „Du und deine Bedenken! Siehst du nicht, welche einmalige Chance vor uns liegt? Entweder wir werben die Germanenstämme des Ariovistos jetzt für uns an - dann können wir unsere Gegner ein für allemal vernichten. Oder wir verbünden uns mit Hilfe des Casticos heimlich mit den Sequanern, treiben die Germanen über den Rhenos zurück und werden die unumstrittene Herrschaft über ganz Gallien erringen. Und das Beste: Alle andern Stämme werden uns noch zujubeln und uns unterstützen. Wir brauchen nur zu warten, wer mit uns zuerst ein Bündnis eingeht.“
            Euamellin hörte ein gequältes Stöhnen. Außerdem wunderte er sich, welche Stämme wohl diese »Germanen« seien. Er hörte den Begriff zum ersten Mal. Meinte Dumnorix die Sueben oder einfach alle Stämme, die keine Kelten waren? „Was passt dir daran denn nicht, Bruder?“ Euamellin hörte, wie Diviciacos auf und ab ging. „Oh Dumnorix. Immer diese Ideen von der Herrschaft über ganz Gallien! Deine Herrschsucht macht dich blind. Erst einmal sollte man nicht im Hause seines Gastgebers Pläne gegen dessen Stamm erörtern, vom Bruch des geheiligten Gastrechtes ganz zu schweigen. Dazu müsstest du selbst erkennen können, was es Catamantaloedes eingebracht hat, sich mit Ariovistos einzulassen.“ Dumnorix Stimme nahm einen verärgerten Tonfall an: „Und das wäre, weiser großer Bruder?“ Diviciacos seufzte und ließ sich schwungvoll auf die Truhe fallen. Euamellin spürte, wie die kleine Spinne aufgeschreckt auf Wanderschaft ging. Bloß nicht bewegen, dachte er, ja keinen Mucks! „Du siehst es wirklich nicht, oder? Ein Drittel des Landes der Sequaner ist nun von Germanen besetzt, Catamantaloedes ist nicht einmal mehr Herr in seinem eigenen Haus. Ariovistos geht darin ein und aus, wie es ihm passt und verteilt munter Geiseln unter die adligen Familien der Sequaner. Für diese tragen sie große Verantwortung – ob sie wollen oder nicht.“ Dumnorix brummte angewidert. „Du befürwortest also eine Allianz der mächtigsten gallischen Stämme gegen die Germanen?“ Diviciacos erhob sich. „Auch da sehe ich Probleme. Wie sollte uns Casticos denn dabei helfen, solange Catamantaloedes auf die Germanen hört? Ist dir klar, dass Casticos dafür zuerst die Herrschaft seines Vaters an sich reißen müsste? Wie will er denn dabei vorgehen? Ihn töten?“ Dumnorix wurde aggressiv, während die Spinne inzwischen Euamellins Nase erreicht hatte. „Und was schlägst du vor? Die Römer anbetteln wie ein Hund? Ist das alles, was du kannst? Die haben dir wohl in den Kopf geschissen, deine Römer, als du bei ihnen…“ Ein gewaltiges Niesen aus der Truhe ließ die beiden Brüder zusammenfahren.
            Diviciacos sprang von der Truhe herunter, als habe ihn Taranis persönlich den Hintern versengt. Dann herrschte einen Moment lang absolute Stille. „Da ist jemand in der Truhe!“ Euamellin schlug den Deckel auf und sprang heraus. Diviciacos und Dumnorix starrten ihn mit offenem Mund an. „Einer der Geiseln des Heerkönigs!“, bemerkte Diviciacos verblüfft. „Los, wir müssen ihn umbringen – er weiß zu viel!“, schrie Dumnorix. Euamellin wollte sich durch die Tür zwängen, doch hatte ihm Dumnorix rechtzeitig den Weg versperrt. Kalt lächelnd zog er einen Dolch aus seinem rotgelben Gewand und kam auf ihn zu. „Bruder, schnell, murks ihn ab! Aber was machst du? So halte ihn doch wenigstens auf!“ In einer einzigen fließenden Bewegung hatte Euamellin den Truhendeckel wieder heruntergeklappt, war darauf geklettert und von da zum kleinen Fenster hinaufgesprungen. Es war gerade klein genug, dass er zwar hindurch passte, die Männer aber nicht hinterher kommen konnten. Diviciacos hatte einfach so daneben gestanden, wie von Taranis gerührt und keinen Muskel bewegt.


            „Los aufhalten, lasst den nicht entkommen! Zehn Goldmünzen für den, der mir den Kopf dieses kleinen Diebes bringt“, rief Dumnorix durch das Fenster den Wachen auf der Straße zu. Das war ein kleineres Vermögen! Während die Wachen noch entgeistert zu dem Haeduer aufblickten, der mit hochrotem Gesicht versuchte, seinen Körper durch das zu enge Fenster zu quetschen, handelte Euamellin blitzschnell. Er rannte auf einen Mann zu, der in der Mitte zwischen den Wachen ein Pferd am Zügel führte. Ein starker Tritt von hinten in die Kniekehle, wie Henakian es ihnen beigebracht hatte, und schon knickte dieser ein. Verblüfft entglitten dem Mann die Zügel. Mit einem Satz war Euamellin auf dem Rücken des Pferdes und jagte davon, dicht gefolgt von zwei Wachen zu Fuß.
            Zu früh gefreut, dachte Euamellin, als er die ersten Wachen abgeschüttelt hatte und in einem Bogen hinunter zum Nordufer des Dubis geritten war. Eine andere Wache musste offenbar schnell ein Pferd besorgt haben. Eine Lanze fest im Anschlag ritt der Mann ihm nun entgegen. Dahinter sah er weitere Krieger in Gelbrot herannahen, die Dumnorix inzwischen alarmiert haben musste. Euamellin wendete sein schnaubendes Pferd und versuchte, seinen Häschern bergauf zu entgehen. Immer schneller jagte Euamellin durch die engen Gassen von Vesontio. „Vorsicht, aus dem Weg! Aus der Bahn, bitte!“ Verängstigt drückten sich die Fußgänger, die ihm begegneten, seitlich an die Hauswände. Der Reiter kam bedrohlich näher. Euamellin musste sich etwas einfallen lassen. Da sah er eine schwer beladene Frau – vermutlich auf dem Rückweg vom Markt. Ohne Warnung ritt er direkt an sie heran und riss ihr die Körbe im Vorbereiten aus der Hand. Brennholz, Fleisch und Gemüse fielen direkt auf die Straße, ein paar Eier kullerten über den Weg. Euamellin murmelte ein paar Wort der Entschuldigung, während die Frau ihm wüste Beschimpfungen auf Sequanisch hinterherrief. Seinen Verfolger konnte er jedoch damit nicht aufhalten: Mit donnernden Hufen ritt er die Einkäufe einfach platt, ohne dass sein Pferd dabei ausglitt. Erbarmungslos zielte er weiter mit seiner Lanze auf den Jungen. Euamellin begann vorsichtshalber, sich in unregelmäßigen Abständen zu ducken und sein Pferd wild in die Kurven herumzureißen. Mehr als einmal spürte er die Lanzenspitze in seinem Nacken.
            Immer steiler wurde der Weg. Inzwischen waren sie bereits bis an die Ecke der Befestigungsmauer am Berg gelangt. Das Tor stand offen und war nur von einem Krieger bewacht, der friedlich im letzten Abendrot der untergegangenen Sonne döste. Euamellin zog die Zügel an und galoppierte hindurch. Plötzlich durchzuckte ihn ein brennender Schmerz. Der Reiter des Dumnorix hatte ihn am linken Oberarm getroffen. Ihm musste etwas anderes einfallen und zwar schnell. Hinter der Befestigungsanlage führte ein steiler Pfad auf die Mauer zwischen die Brüstungen, nur ganz unten gab es ein paar Treppenstufen. Euamellin kniff die Augen zusammen. Das müsste zu schaffen sein. Er trieb sein Pferd an, riss dann heftig an den Zügeln und hob ab. Sicher gelandet! Sein Verfolger hatte den Absprung verpasst und versuchte, jetzt sein Ziel von unten mit einem Lanzenwurf zu erledigen. Euamellin drehte sich zu einer Körpertäuschung, und jagte den Wehrgang entlang. Er hörte, wie die Lanzenspitze an seinem rechten Ohr vorbeipfiff, dann hatte er den Reiter endgültig abgeschüttelt.
            Vor ihm hatten sich inzwischen mehrere sequanische Krieger versammelt und bedeuteten ihm, anzuhalten. Aber denen konnte er sich ja gerne ergeben. Mal sehen, was die zu den Plänen der Haeduer sagen würden. Vielleicht ließen sie ihn zum Dank frei? Jetzt musste er nur noch den Lauf seines Pferdes verlangsamen. Da vorne wurde es auch wirklich eng, die Gallische Mauer ragte hier an einer Engstelle mit ziemlichem Überhang über die Kante des Berges hinaus. In der Tiefe darunter rauschte der Dubis. Zum Zeichen, dass er keinen Widerstand leisten würde, hob Euamellin schon einmal die unbewaffneten Hände in die Höhe. Eine der Wachen kam herbeigelaufen, um ihm in die Zügel zu greifen. Mit einem schnellen Griff wollte er die Lederriemen packen, da scheute das Pferd und begann zu steigen. Mehrere der Krieger sprangen hektisch herbei und versuchten, es zu beruhigen, doch machten sie das Ross nur noch nervöser. Wild wiehernd keilte es mit den Vorderhufen aus. Euamellin hatte das Tier nicht mehr im Griff. Weitere Wachen kamen hinzu, um zu helfen und das Pferd festzuhalten. In die Ecke getrieben rutschte das Ross schließlich aus, schlidderte über die Brüstung und Euamellin stürzte mitsamt Pferd kopfüber in die Tiefe.
            Um ihn herum sah es für Euamellin so aus, als würde ein Gott die Zeit anhalten und nur stückchenweise wieder preisgeben. Seine Haare flatterten so langsam im Wind, als würden hunderte kleine Geister sie in alle Richtungen zerren. Das langgezogene Wiehern des Rosses in Todesangst klang dumpf, tief und hohl. Vereinzelte Holzsplitter der Brüstung segelten über ihm in der Luft. Der Fall schien Ewigkeiten zu dauern. Die Tiefe kam unendlich langsam näher. In bedächtigen Drehungen überschlugen er und sein Pferd sich mehrfach. Als er nur noch wenige Fuß vom Dubis entfernt war, sah es so aus, als ob das Pferd auf ihm landen würde. Im allerletzten Moment schaffte er es jedoch irgendwie, noch auszuweichen und seinen Körper über das Ross zu bekommen. Dann nahm ihm die Härte des Aufpralls den Atem. Ein lautes Krachen, ein jämmerliches Wiehern, dann schien die Zeit auf einmal schneller dahinzueilen als gewöhnlich. Wie betäubt tauchte Euamellin in die reißenden Fluten des Dubis ein, der an dieser Stelle, tief eingeschnitten zwischen zwei Berge geklemmt, nur so dahinschoss. Verzweifelt versuchte er, im wilden Strudel Luft zu holen. Seine Lungen waren nahe daran, zu bersten. Er schaffte es einfach nicht, die Strömung war viel zu stark. Kurz bevor er sich zurück in die Tiefe ziehen ließ, spürte er etwas, das sich wie ein Biss am Hals anfühlte. Dann verlor er endgültig die Besinnung.

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