Wie immer freue ich mich über jede Anregung und
jeden Kommentar!
5. Abschied
[…]
Vor ihnen erstreckte sich die südwestliche Lichtung am Fuße des alles
überragenden Dünsberges. Vorsichtig kam die Vorhut des Zuges aus dem Wald, den
Berg im direkten Blickfeld. Weit über tausend Fuß höher als die nahe Loneta
dominierte er eindeutig die Landschaft. Mit seiner charakteristischen
Silhouette in der Form eines menschlichen Knies bildete der Berg eine deutliche
Landmarke. Bereits am Fuße der Hänge konnten sie ein weit ausgedehntes Heerlager
sehen. Der Zug der Männer Ubiacums kam abrupt zum Stehen. Für ein solches Heer
konnten sie nicht einmal ansatzweise eine Bedrohung darstellen. Entsetzt
starrten sie auf das Gewimmel bewaffneter Krieger. Das ringförmig und
weitläufig angelegte Lager reichte von der Ebene fast bis hinauf zum Oppidum
auf der Kuppe des Berges, das durch mächtige Ringwälle befestigt war. Selbst
auf den relativ steilen Hängen, auf denen die Bewohner Ubiacums podienartige
Terrassenflächen angelegt hatten, vermeinte Euamellin Bewaffnete zwischen den
Häusern ausmachen zu können. Die Anführer berieten sich mit dem Boten, der die
Verhältnisse in der Stadt kannte. „Es sieht nicht gut aus. Sie sind überall:
ein großes Heer an den Hängen, alle Tore sind besetzt, die Oberstadt auch, einfach
alle wichtigen Punkte sind in ihrer Hand. Ein Versuch durchzubrechen wäre
reiner Selbstmord“, lautete die nüchterne Bestandsaufnahme Haldavvos.
Euamellin,
Sedavo und Fiskja befanden sich unter den Reitern Henakians. Ferio und seine
Männer waren im vorderen Drittel postiert. Doch brüstete sich niemand mehr, die
Sueben einfach davonzujagen zu können. Nervös kauten sie auf ihrer Unterlippe
herum. Fiskja sah zu einer Stelle am Waldrand. „Seht ihr den Punkt da drüben?
Hinter den Blättern bewegt sich was. Das muss wohl die Spitze eines
Pferdekopfes sein.“ Euamellin gab ihm Recht. „Stimmt. Sie müssen Postenketten
in der Umgebung aufgestellt haben.“ Sedavo blickte nachdenklich ins Gebüsch.
„Ich bin mir sicher, dass sie auch die Wege zum Hafen an der Loneta blockiert
haben. An ihrer Stelle würde ich es jedenfalls so machen.“ Fiskja zerrte wütend
an seinem Schild herum. „Wie konnten sie nur die Ringwälle überwinden? Trotz
der Spitzgräben, die davor liegen? Die sind immerhin dreiunddreißig Fuß tief!
Das hätte sie doch eine Weile aufhalten müssen, beim Wodan! „Vierzehn
Tordurchlässe sind nicht leicht zu verteidigen“, erwiderte Euamellin. Fiskja
war noch nicht überzeugt. „Unsere unbezwinglichen Zangentore? Wer da hindurch
will, muss sich doch von drei Seiten beschießen lassen, bevor er überhaupt an
das Tor selbst rankommen kann!“ Sakjo mischte sich ein: „Jetzt denk doch einmal
mit, du Chatte! Selbst wenn nicht fast alle unserer Krieger entweder bei uns im
Wald gewesen wären oder auf den Feldern des Umlandes: Zur Verteidigung braucht
man eine Menge Bewaffneter! Wir hatten gar keine Zeit, die Krieger in der Nähe
nach Ubiacum einzuberufen.“ Sedavo hatte ebenfalls seine Zweifel. „Aber da
müssen doch noch fast tausend Menschen übrig geblieben sein…und die
Wachposten?“ „Kinder, Greise, Frauen und Unfreie, die sollen gegen ein Heer der
Sueben Widerstand leisten? Ich bitte dich…“
Während
die Jungen, eingerahmt von erwachsenen Kriegern noch überlegten, kam auf der
anderen Seite Bewegung in die Reihen. Fiskja ballte die Faust um seinen
Schwertknauf. „Seht mal, man hat uns entdeckt. Jetzt wird’s ernst…“ „Da kommen
aber nur drei Reiter“, wunderte sich Sedavo. „Anscheinend erinnern sie sich
daran, dass wir eigentlich noch an das Friedensbündnis gebunden sind“, meinte
Euamellin. „Auch wen es elf Jahre her ist…“ Die drei Reiter kamen näher. Ihre
Pferde waren kleiner als bei den Ubiern üblich, kaum vier Fuß bis zum Widerrist
am Halsansatz und fast vollkommen schmucklos. „Was ist das denn? Sind das
Kinderpferdchen, oder was?“ „So klein sind die auch wieder nicht“, knurrte
Fiskja. „Das sieht nur so aus, weil die Krieger besonders groß und muskulös
sind. Die sollten wir nicht unterschätzen!“ „Seht mal“, bemerkte Sedavo, „die
haben auch gar keine Sättel! Und Helme tragen sie auch nicht. Sind das am Ende
gar keine vornehmen Anführer?“ Angestrengt musterten die Jungen die fremden
Reiter. Alle drei hatten ihre langen blonden Haare rechts vorne über Stirn zu
einem Haarknoten hochgebunden. Euamellin schätzte den in der Mitte mit Bart auf
ungefähr dreißig Jahre, die anderen beiden waren jünger, vielleicht an die
zwanzig und mehr oder weniger glatt rasiert. Sie hatten auch keinen Panzer
angelegt, nur einen auffallenden wehenden Mantel über einem einfachen Kittel,
Hose und Schuhe sowie ein Schwert. Wie sie lässig herantrabten, die rechte Hand
locker nach unten hängend, machten sie nicht den Eindruck, als seien sie auf
einen Kampf aus. Nur ihre Narben ließen auf einen kriegerischen Lebenslauf
schließen.
Als
die Reiter in Rufreichweite gekommen waren, blieben sie stehen. „Männer
Ubiacums, wir grüßen euch. Vor euch stehen treue Gefolgsmänner des
Aginomellosohnes Ariovistos, des Königs der Sueben. Wer befehligt eure
Krieger?“, rief der Reiter in der Mitte in haeduischem Keltisch. Er sprach mit
einem seltsamen Mischakzent: sowohl Suebisch als auch Sequanisch. Snevemin und
Staveno ritten ihnen entgegen. „Vor euch stehen Staveno, des Sautheno Sohn und
sein Schwiegersohn Snevemin, Sohn des Battavo“ entgegnete Snevemin in
chattischem Suebisch. Staveno war noch vom Ritt erschöpft und atmete schwer.
Der älteste der drei Sueben ritt direkt neben Snevemin heran, so dass sich ihre
Pferde beinahe an der Flanke berührten. „Gut, die führenden Mitglieder eures
Rates, wie mir gesagt wurde.“ Ungerührt behielt der Suebe sein
akzent-behaftetes Keltisch bei: „Ich schätze dahinter sitzt der restliche Rat -
hoch zu Ross?“ Snevemin verschränkte die Arme und zog einen Mundwinkel
herunter. Dann wechselte er nahtlos ins Haeduische „Und wenn dem so wäre? Was
wollt ihr?“ „Oh verzeih, habe ich vergessen mich vorzustellen?“ Die anderen
beiden lachten mit unverhohlenem Spott, ihr Anführer drehte sich grinsend um.
„He, hört auf zu lachen! Wo bleiben nur eure Manieren?“ Dann wieder zu Snevemin
gewandt. „Ich bin Gamuth, Sohn des Gimbert, die zwei Spaßvögel da sind meine
Brüder Gimo und Gamo, ebenfalls Söhne des Gimbert. Wir statten euch einen
kleinen Höflichkeitsbesuch ab, wie es sich unter Bündnispartnern gehört.“
Wieder lachten Gimo und Gamo. Snevemin und Staveno waren entrüstet. „Ein Höflichkeitsbesuch…?“
„Warum auch nicht? So weit ist der Rhenos ja gar nicht entfernt. Unser
Heerkönig wollte nur nachsehen, ob bei euch Ubiern alles in Ordnung ist. Wo
doch zuletzt so viele eilige Boten bei
euch unterwegs waren. Na, und da sind wir eben als gute Nachbarstämme mal eben
kurz vorbeigekommen.“ Snevemin wurde zunehmend ärgerlich, spielte das Spiel
jedoch noch mit: „Eure Höflichkeit ist ziemlich raumgreifend. Wie ich höre sind
die Tore voller Krieger, die Oberstadt auch - die ganze Stadt ist besetzt...“
Gamuth blieb die Gelassenheit in Person. „Wir wussten einfach nicht, wo wir so
viele Männer lassen sollten, ohne euch zu stören… und da ihr gerade nicht zu
Hause wart…“ „Ihr habt sie gut verteilt“, antwortete Staveno mit einem
grimmigen Lächeln.
[…]
In der großen Halle herrschte ein ziemliches Gedränge. An der Stirnseite stand
Gamuth exponiert in der Mitte, hinter ihm seine Brüder Gimo und Gamo und ein
paar suebische Krieger. Weitere Sueben bildeten längs durch den Raum zu beiden
Seiten eine Gasse, dahinter standen Vertreter der Ratsfamilien Ubiacums mit ein
paar ihrer Kinder. Euamellin suchte nach bekannten Gesichtern und fand Staveno,
der schwer atmete und sich von Snevemin stützen ließ, Sinnio mit seinen Söhnen,
Evekern, Lellavo und auch Veleda. Gleich am Eingang erkannte er Henakian und
Sakjo sowie dessen Schwester. Und unter den Kriegern der Sueben an der
Stirnseite? Täuschte er sich oder stand hinter dem blonden Brüderpaar… doch,
das war ja – Harimello! Der große Krieger, der sie hereingeführt hatte, gab mit
dem Zeigefinger ein Zeichen nach vorn, Gimo trat an Harimello heran und
flüsterte ihm etwas zu, worauf Harimello nickte. Gimo machte seinem Bruder ein
Zeichen mit dem Daumen. „Gut“, begann Gamuth, „alle Ubier, die wir wollten,
sind hier.“ Er sprach wieder in haeduischem Keltisch, von dem er wusste, dass
die ubische Oberschicht stolz war, es zu beherrschen. Sein eigenwilliger
sequanisch-suebischer Akzent war leicht irritierend, störte jedoch kaum das
Verständnis. Nur die Chatten hätten es sicher lieber gesehen, wenn er auf
Suebisch gesprochen hätte. Ab und zu musste einer von ihnen einen Ubier fragen,
was gerade gesprochen wurde.
„Ihr
fragt euch sicher, warum wir euch besuchen?“ Gamuth ließ seine stechenden,
graublauen Augen über die Versammelten schweifen. „Wie gesagt, ein reiner
Freundschaftsbesuch. Niemand hat vor, Feindseligkeiten auszutragen, schon gar
kein Gemetzel“ Gamuth schritt, während er sprach, die Gasse auf und ab, blieb
ab und zu stehen und schaute dem einen oder anderen direkt ins Gesicht.
„Jedenfalls nicht, solange es nicht unbedingt nötig ist“ Die Anwesenden sogen
die Luft ein. Euamellin verspannte sich. „Wie man euch wahrscheinlich schon
berichtet hat, ist unser stolzer Heerkönig Ariovistos, Sohn des Aginomello
gerade ein wenig südlich von euch beschäftigt“, fuhr Gamuth fort, „da gibt es
doch durchaus ein paar Helvetier und andere Keltenstämme, die ihm nicht
wirklich freundlich gesonnen waren, während er in den letzten Jahren für die
Sequaner gekämpft hat. Manche haben ein Abhängigkeitsverhältnis abschütteln
wollen oder gar bereits vereinbarte Tribute nach einem Unterwerfungsvertrag
eingestellt, manche waren sogar so unverschämt, seine Feinde, die Haeduer zu
unterstützen. Jedenfalls hat er ein paar Truppen bei der Belagerung des Oppidums
von Manching gelassen, andere vor Kehlheim und rückt durch das Gebiet der
Vindeliker nun gegen die Noricer vor. Sobald wir uns wieder mit seinem
Hauptheer vereinigt haben, statten wir König Voccio einen kleinen Besuch ab…“
Da stellte sich Gimo direkt neben Henakian, der ein besonders unzufriedenes
Gesicht machte: „Schade, wir werden eure freundliche Gastfreund-schaft also
nicht lange in Anspruch nehmen können.“ Dann zupfte er unversehens Henakian an
seinem wohlgestutzten Bart „Du freust dich doch über unseren Besuch, du
Schnurrbart, oder?“ Mehrere Sueben lachten. Staveno legte ihm sanft die Hand
auf den Schwertarm. Man sah Henakian an, dass er sich nur mit äußerster
Kraftanstrengung beherrschen konnte.
Ein
dermaßen respektloses Auftreten der Sueben hatten nur die Wenigsten erwartet.
„Bei meinem Barte!“, murmelte Lellavo. Sofort baute sich Gimo vor ihm auf „He,
du Rotbart, was erlaubst du dir? Hast du etwa keinen Respekt vor deinen
suebischen Freunden?“ Instinktiv legte sich Lellavos Hand an seinen Schwertgriff.
Sofort zogen die suebischen Krieger drohend ihre Schwerter aus der Scheide und
erhoben ihre Speere. „Hristo, nicht jetzt!“, herrschte ihn Snevemin an.
„Hristo, nein, denk an die Kinder! Es nützt nichts - lass es, Onkel“, raunte
ihm Veleda zu. Einen Moment lang noch schien es, als wolle Lellavo auch blank
ziehen, dann riss er sich zusammen und blickte stumm zu Boden. Gamo gesellte
sich zu seinem Bruder, um zusammen mit Gimo seinen Spaß mit Lellavo zu treiben.
„Wer oft flüstert, braucht gute Ohren. Hat Dir schon jemand gesagt, dass Du
ganz besonders große Ohren hast?“ Gamo näherte sich mit Zeigefinger und Daumen
Lellavos Ohren, Gimo packte gerade noch rechtzeitig Gamo am Handgelenk: „Aber
Brüderchen, du willst doch nicht einen unserer Gastgeber beleidigen! Große
Ohren, ts, ts, ts!“ Dann packte er selbst Lellavos Ohren mit beiden Händen:
„Nein, RIESIGE Ohren sind das, gigantische, nicht einfach nur große!“ Lellavo
stieg das Blut in den Kopf. Die Farbe seiner Ohren wechselte von zartem Rosa zu
dunklem Purpur. Seine Hand gehorchte ihm kaum, sich nicht wieder auf den
Schwertgriff zu legen. Gimo ließ ihn los, dafür trat Gamo forsch auf ihn zu und
beugte sich über den fast einen Kopf kleineren Lellavo, als sähe er ein
Naturschauspiel: „ Er hat sogar bunte Ohren, nicht wahr, Gimo?“ „Lass mich mal
sehen! Ja, in der Tat! Er kann seine Ohren leuchten lassen! Was könnt ihr Ubier
noch alles? Komisch reden? Zusammengepfercht innerhalb einer Stadtmauer leben,
wie Vieh? Ohren leuchten lassen? Aber mit so großen Ohren kann man doch sicher
gut zuhören, oder? Mit solchen Ohren müsste man doch sicher gut Abmachungen
einhalten können, nicht wahr? Und Bündnisse und Tributversprechungen, oder?“
Ein
Raunen ging durch die Runde der versammelten Ubier. „Ganz recht, liebe Ubier.
Das hättet ihr eigentlich hinbekommen sollen. Wo ihr solche Ohren unter euch
habt…Aber auch wir haben Ohren…“ Gamo lächelte verschmitzt. „Uns ist zu Ohren
gekommen, dass ihr in letzter Zeit viel zugehört habt oder euch zumindest viel
zu sagen hattet. Einberufungen der adligen Familien, ein Thing in Planung und
so weiter… was habt ihr da noch gleich beschlossen?“ „Aber Bruderherz“,
unterbrach ihn Gimo, „das geht uns nichts an, ist doch eine rein ubische
Angelegenheit - oder eine ubisch-chattische, oder doch eher eine chattische…?
Gingen eigentlich in den letzten Jahren gar keine Tribute mehr an die
Hauptgruppe der Chatten oder haben die nur vergessen, diese an uns
weiterzuleiten?“ Gamuth übernahm wieder für seine Brüder: „Aber Brüderchen, das
klären wir später. Mit den Chatten hätten wir noch ein größeres Huhn zu
rupfen.“ Gamuth machte eine kleine Pause und lächelte. „Zumindest haben wir bei
den Vindelikern ein paar Wagenladungen von euch gefunden, die auf dem Weg nach
Manching waren. Die waren doch sicher für unseren Ariovistos, den Sohn
Aginomellos bestimmt, oder? Wir haben die Hilfsgüter und Goldmünzen schon
einmal als Anzahlung genommen. Aber sagt mal, prägt ihr nicht eure eigenen
Vogelköpfe? Und habt ihr nicht auch eine lustige Silbermünze, so ein tanzendes
Männlein? Warum hattet ihr denn so viele fremde Goldmünzen runtergeschickt?
Wozu denn das Gold wieder dorthin zurückschicken, woher ihr es teuer bezieht…?“
In der Halle war kein einziger Laut zu vernehmen.
Gamuth
musterte alle Stammeshäupter, einen nach dem anderen, schließlich brach er
selbst das Schweigen. „Aber wie gesagt, es handelt sich lediglich um einen
Freundschaftsbesuch. Wie ihr wisst, hat unser Heerkönig viele Freunde. Unter
ihm verdienen sich außer uns Gefolgsmänner vieler anderer Stämme Ehre, Ruhm und
Beute. So mancher Triboker, Harude und Markomanne hat sich bereits einen Besitz
westlich des Rhenos verdienen können. Warum nicht auch ihr? Jeder der sich uns
anschließen will, ist willkommen!“ Da lief Harimello zu ihm hin, die rechte
Hand ruhte auf dem Holzgriff eines relativ schlichten, suebischen Schwertes,
mit dem er gegürtet war. Seine braunen Locken waren seitlich zu einem Knoten
aufgebunden. Der lange Oberkörper steckte in einem Kettenhemd. Es schien zwar
ein wenig zu kurz und zu locker zu sein, dafür trug er es sichtlich mit Stolz.
„Wer auch genug hat von den sinnlosen Vorschriften der alten Familien, soll
ihnen folgen. Ich habe mich jedenfalls dazu entschieden.“ Euamellin traute kaum
seinen Ohren. Harimello hatte so einfach die Fronten gewechselt? „Bei ihnen
zählen nicht nur sinnlose Riten, beherrscht von einzelnen Sippen. Unter
Ariovistos kämpft man als Freier unter Freien, nicht den sogenannten »besten
Familien« untertan, oder Adligen, wie sie sich nennen. Während ihr euch hier
langsam versammelt habt, habe ich bereits mehrere jugendliche Krieger aus der
Unterstadt überzeugen können. Aber auch hier sehe ich unzufriedene Männer. Na
los, wer ist sonst noch dabei?“ Niemand rührte sich.
[…]
Auf das betretene Schweigen führte Gimo das Werben um Gefolgsleute fort: „Warum
sollten nicht auch einige von euch sich freiwillig durch einen Treueeid
verpflichten? In der einen oder anderen Sippe führt ein Verwandter die
Geschäfte, für euch bleibt kaum ein Weg, sich auszuzeichnen? Steht doch auf eigenen
Füßen!“ Gimo zeigte auf Harimello. „Der Bursche hier ist gar nicht so dumm, bei
euch durfte er seit Jahren nicht einmal Waffen tragen, jetzt ist ihm schon
einmal mindestens ein Hof jenseits des Rhenos sicher - mit allem was dazu
gehört, Gebäude, Ausstattung und Pächter. Und dann erst der Ruhm einer
Schlacht…“ Gimos grünblauen Augen mit den Lachfältchen am Rande blitzten voll
überzeugter Begeisterung. „Da zählt noch die tapfere Tat eines tapferen Mannes.
Für eure Dienste beim Heerkönig persönlich winken gestellte Verpflegung,
persönliche Ausrüstung, einen Anteil an der Beute sowie sonstige Geschenke.“
Damit klopfte er mit den Handknöcheln auf Harimellos Schwert und Kettenhemd.
„Oder wollt ihr lieber hier träge werden, Felder bestellen und auf Ernten warten,
kurz, in langer Friedensruhe erstarren? Es gibt schon einen Grund dafür, warum die Ubier nicht mehr so mächtig
sind, wie sie es einst einmal waren. Sich mit mühseligem Schweiß zu erarbeiten,
was man ruhmreich mit Blut haben kann – das ist doch erst richtige Schlaffheit
für einen echten Mann… Wer sich jedoch Beute und Land verdienen will, der kommt
mit uns.“
Gamo
streckte zur Geste des Willkommens und der Freundschaft seine geöffnete Hand in
den Raum und wartete. Seine listigen eisblauen Augen durchmaßen flink die Halle
und suchten nach leicht zu überzeugenden Opfern, denen er sich mit besonderer
Liebenswürdigkeit und Überzeugungskraft widmete. Ein paar Jugendliche und
Männer niederer Rangfolge innerhalb ihrer Sippe wollten sich nun tatsächlich
Ariovistos als Gefolgsmänner anbieten. Man begrüßte sie herzlich und ließ sie
durch die Absperrung der Krieger in die Gasse treten. Ihre Familien
beobachteten die unerwartete Szene jedoch mit Abscheu und Entsetzen.
Damit
schien die Veranstaltung beendet. Zufrieden schritten die drei Brüder die Gasse
entlang Richtung Tür. Die Familien Ubiacums atmeten auf. Kurz bevor Gamuth die
Halle verließ, drehte er sich jedoch noch einmal um. „Ach, beinahe hätte ich es
vergessen! Unser Heerkönig würde es gerne sehen, wenn er diesmal von Ärger
hinter seinem Rücken verschont bliebe, sollte er bald wieder im Westen sein.
Das mit den Geiseln, die ihr vor elf Jahren bei den Chatten lassen musstet… ihr
wisst ja selbst, dass die Chatten inzwischen nicht mehr unbedingt unsere Nähe
suchen. Von den Tributen und den Familien, die man zu deren Absicherung hierher
verfrachtet hat, ganz zu schweigen. Eure Söhne und Töchter, die heute hier
versammelt sind - soweit sie sich uns nicht angeschlossen haben - werden uns zu
Ariovistos begleiten. Seid uns deswegen nicht böse. Nur um sicher zu gehen,
dass ihr auch weiterhin die richtigen Entscheidungen trefft; vor allem beim
anstehenden Thing. Das dient ausschließlich eurem eigenen Wohlergehen – und dem
eurer Familien…“
[…]
Schließlich
war es so weit. Am Ende des Rundrittes standen sie am Südosttor. Hier führte
der breiteste und bequemste Weg den Berg hinab. Euamellin spürte, wie ihn ein
Knoten im Hals drückte. Er musste schlucken. Das sollte also für lange Zeit
seine letzte Begegnung mit Ubiacum sein. Durch die geöffneten Tore sah er die
Wohnstätten außerhalb am Strahlenwall, aber auch bereits die Landschaft tief
unterhalb des Berges. Entfernt vermeinte er, die Loneta durch die Häuserecken
und die tiefer liegenden Hügel blitzen zu sehen, die Hänge, Felder und Wälder.
In der Ferne war ein Donnerschlag zu hören, einzelne Wolken verdichteten sich
zu einem schwarzen Band. Es würde Regen geben. Euamellin drehte sich
bergaufwärts zum mittleren Ringwall und der Oberstadt um. Eine Träne kämpfte
sich ihren Weg durch seine Lider. Würde er Louba, seine Mutter, seinen Vater
Snevemin und Onkel Lellavo jemals wiedersehen? Der Wind wurde stärker. Zum
letzten Mal sog Euamellin den Geruch vom Dünsberg ein, der ihm um die Nase
wehte: Es roch nach dem Rauch aus Holzfeuern vieler Häuser und Werkstätten,
nach Tannen, Fichten, Birken und Linden, Wiesen, Wildblumen und Feldern,
Rindern und Schweinen. Das war der Geruch Ubiacums, der Geruch seiner Heimat.
Als Euamellin seine Heimatstadt durch das Zangentor verließ, ritt er einer ungewissen
Zukunft als Geisel der Sueben entgegen.
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