Ein Dienst von 30 Jahren, keine Intimitäten mit einem Mann
oder lebendig eingemauert – keine schöne Aussicht für ein junges Mädchen. Bei
Dienstantritt im Alter von 6-10 Jahren kommt dies nahezu einem endgültigen
Verzicht auf eigene Kinder gleich. Warum gibt es dennoch ein großes Gerangel um
eine der nur sechs Stellen als Priesterin der Vesta, warum sind fast nur Namen
aus den großen Familien Roms überliefert?
Nun, wer immer will, darf nach dem Dienst heiraten und ein
„normales Leben“ führen, hinzu kommen zahllose Privilegien wie die volle
Geschäftsfähigkeit, im alten Rom dem Mann vorbehalten (patria potestas des pater familiās), sonst dem Vater (außer
nach Geburt dreier Kinder - ius trium liberorum), kostenloser
Bodyguard-Service durch staatliche Liktoren in der Öffentlichkeit, reservierte
Sitzplätze in Circus und Theater sowie die Vollmacht, Todesurteile unterwegs
aufzuheben, wenn man dem Verurteilten zufällig auf seinem letzen Weg begegnet.
Aber wenn der Dienst im Alter von 40 endet, warum haben
Inschriften bis heute überdauert, die von Kindern von Vestalinnen gestiftet
wurden, wie auf mehreren Inschriften
zu lesen ist (z.B. CIL 6.32414,
gestiftet von einer Ordensschwester mit ihrem Sohn)? Macht der Göttinnen-Dienst so fruchtbar, dass es danach noch mit
mehreren Kindern als äußerst spät Gebärende mit Risikoschwangerschaften klappt?
Nein, viel wahrscheinlicher ist, dass der Dienst im ALTER
von 30 Jahren beendet war, in einem Alter, in dem auch Sklaven üblicherweise
freigelassen wurden, damit sie gerade noch erfolgreich ins Geschäftsleben
einstiegen können und dem Freilasser Prozente einbringen, anstelle ihm alt und
krank auf der Tasche zu liegen.
Der üblicherweise (auf deutsch, englisch oder italienisch)
zitierte Beleg für die Dienstzeit einer Vestalin steht im 10. Kapitel der Parallelbiographien des
Plutarch (1.-2. Jh. n. Chr.) über das Leben des sagenhaften römischen Königs Numa (angeblich 6.-7. Jh. v. Chr.), den er dem mythischen spartanischen Gesetzgeber Lykurg gegenüberstellt: μέχρι τῶν χρόνων τούτων τὸ πλῆθος, ὡρίσθη δὲ ταῖς ἱεραῖς παρθένοις ὑπὸ τοῦ βασιλέως ἁγνεία τριακονταέτις. Plautarch schreibt also, dass die Vestalinnen auf König Numas Geheiß dreißigjährige Reinheit bewahren sollten (ἁγνεία τριακονταέτις). τριακονταέτις bedeutet dreißigjährig, aber auch ein Alter von 30 Jahren. Trotz des Bezuges zu ἁγνεία kann dies nun als DAUER ODER als ENDPUNKT interpretiert werden. Kurz danach steht noch ein Satz, der in (fast) allen Übersetzungen mit „then, the thirty years being now passed / nach Ablauf der dreißigjährigen Dienstzeit“ wiedergegeben wird. Im griechischen Original steht jedoch nur: μετὰ τὸν χρόνον – nach d(ies)er Zeit – ohne jedweden Zusatz einer
genauen Länge oder Dauer. Christlichen
Kirchenvätern war eine „Keuschheit auf Zeit“ schon immer ein Dorn im Auge,
vielleicht hat diese Übersetzungstradition recht alte Wurzeln. Zumindest wurde die
Sichtweise auf den Vestalinnendienst bisher durch solche Interpretationen und sich vom Text leicht entfernenden Übersetzungen stark
eingeengt.
So ist m.E. davon auszugehen, dass diejenigen Vestalinnen,
denen das ewige Feuer hüten zu langweilig wurde, bereits im ALTER von 30 und
nicht nach Ende von 30 Jahren Dienst an der Flamme ihren Schleier nehmen und
gehen dürfen. Dies würde erklären, wie Vestalinnen zu mehreren Kindern kommen können.
Selbst wenn ursprünglich in mythischer Zeit ein
dreißigjähriger Dienst festgelegt worden sein sollte, so klingt ein starres
Festhalten daran zumindest für die späte Republik und die Kaiserzeit
unwahrscheinlich. Schließlich kann nur ein hübsches junges Mädchen aus einer
prominenten Familie Vestalin werden. Schwer vorstellbar, dass gerade die
mächtigsten patrizischen Familien ihre Angehörigen reproduktionstechnisch und
politisch aufs Abstellgleis schieben, wo sie doch eigentlich alle einen Dispens bekommen können:
Ablehnen kann man die Ehre, auf die Kandidatenliste zu kommen, fast immer, z.B. bereits
wenn der Vater irgendeine der zahlriechen Priesterfunktion ausübt (hat
praktisch jeder, der etwas auf sich hält, quasi jeder Politiker) oder drei
Kinder hat - und gänzlich verboten ist die Kandidatur, wenn die Familie im
Zwischenhandel und Handwerk aktiv ist oder ein Elternteil verstorben ist. Immerhin werden selbst kurzfristige
politische Allianzen und Koalitionen üblicherweise mit einer Verheiratung besiegelt…
Wenn im Mittelalter Adlige ihre Angehörige ins Kloster schicken,
wird dieses zuallermeist als Versorgungsstätte ausgenutzt. Das Klosterleben ist
für prominente Bewohner weitaus weniger „spirituell“ und oft nicht wirklich
keusch – vom Lebensstil von (Erz-)Bischöfen ganz zu schweigen – oder
Borgia-Päpsten, Vater & Sohn nacheinander auf dem heiligen Stuhl…
Vermutlich wird in der ausgehenden Republik auch des Öfteren ein Auge
zugedrückt. Bei einem Prozess, bei dem Catilina
eine intime Beziehung mit Fabia vorgeworfen wird, einer Halbschwester Ciceros,
kommt es zu keiner Verurteilung. Auch Crassus, der einer Vestalin (angeblich
wegen eines Immobilien-Deals) nachstellt, wird freigesprochen. Ob wirklich alle
Vestalinnen gegenüber solch durchsetzungsstarken charismatischen Politikern
immer keusch geblieben sind...?
Wenn man die Dienstzeit durchsteht, so ist dies für selbstbewusste Frauen
sicher eine gelungene Investition. Nun kann man sich auch ohne männlichen Beistand (vermutlich mit 30) voll in die Geschäftswelt stürzen und ein
vollkommen unabhängiges Leben führen.
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