Ein Klatschen, ein Spritzen, dann ein erstickter Schrei.
Gaius musste endgültig den Halt verloren haben. Rufus sprang sofort hinterher.
Rufus folgte der Strömung, doch konnte er Gaius in dem schlammigen Wasser und
der absoluten Finsternis nicht finden. Bei allen Muttergottheiten und beim
Apoll der Römer, Gaius hatte doch hoffentlich das Schwimmen nicht vergessen!
„Gaius! Gaius wo bist du?“ Seine Schreie wurden vom Tonnengewölbe der
Kanalisation vielfach gebrochen hin und her geworfen. Keine Antwort. Als das
Echo verklungen war, hört er doch noch etwas: ein panisches Röcheln. „Gaius!
Bleib ruhig! Spuck das Wasser wieder aus. Schwimm einfach auf der Stelle!“ Als
Antwort hörte Rufus nur ein gurgelndes Geräusch, doch das reichte ihm.
Zielsicher packte er zu und zog ihn wieder über Wasser. „Gaius, beruhige dich!“
Rufus legte ihm seinen linken Arm um den Hals und zog ihn rückwärts schwimmend
mit. Gaius prustete und spuckte, schließlich ließ er sich aber von Rufus
führen.
Ein starker Sog zerrte die beiden mit. Die Kanalisation
wurde offenbar laufend mit viel Frischwasser von den Aquädukten versorgt. Orientierungslos
wurden sie im Kanal hin und her geworfen und stießen sich die Köpfe. Dennoch
kämpfte sich Rufus immer wieder an eine Seite und tastete nach Vorsprüngen oder
Planken. Schließlich konnte er sich an etwas festhalten. „Komm jetzt, hoch mit
dir!“ Der Rand war glitschiger als erwartet. Als ihr erster Versuch scheiterte,
begann Gaius wieder hektisch zu strampeln. „Gaius, was soll denn das? Bleib
ruhig!“ „Hier kommen wir nie wieder raus! Entweder ersaufen wir hier unten oder
wir verhungern! So wie der arme Kerl vor uns, dessen hohler Schädel uns
verhöhnt hat... Ai!“ Rufus hatte sich inzwischen auf den Vorsprung schwingen
können und Gaius eine kräftige Ohrfeige verpasst. Das half. Er ließ sich wieder
folgsam mitziehen. „Und nun?“, stieß er zwischen zwei Schluchzern aus. „Kein
Licht! Hier kommen wir nie wieder raus!“
Rufus dachte nach. Abwasser, Strömung… Wir müssen nur dem
Wasser folgen. „Heureka!“, rief er schließlich. „Wasser fließt nur in eine
Richtung: bergab. Also folgen wir einfach der Richtung des Wassers! So kommen
wir zum Tiber.“ „Meinst du denn, wir können so lange schwimmen? So wie es
aussieht, gibt es am Rand meist nur diese verdammt glatten Tunnelwände, beim
Pluto…“ „Keine Sorge, ich kann dich lange genug abschleppen. Solange wir welche
finden, nehmen wir Vorsprünge oder Bretter. Ich tauche mal meinen Fuß rein, um
zu sehen, in welche Richtung wir weiter müssen..., aber he, moment Mal!“ „Was
ist? Warum lachst du?“ „Wir Dummköpfe! Das Wasser ist hier gar nicht so tief,
da kann man stehen!“ „Wirklich?“ Rufus sprang wieder in den Kanal. „Wirklich!
Komm!“
Erschöpft lagen schließlich beide am Tiberufer und
atmeten durch. „Ich hätte wetten können, dass wir in der Cloaca Maxima
rauskommen“, meinte Gaius verwundert. „Umso besser, das Ende der Cloaca Maxima
ist noch nicht überdeckt, ich hätte mich ungern so auf dem Forum gezeigt.“
Dabei hob er seine abwasserdurchtränkten Ärmel in die Höhe. Rufus versuchte
sich zu orientieren. Die Nacht war beinahe vorbei, aber der Tag hatte noch
nicht richtig begonnen. Im Zwielicht konnte er zu ihrer Linken schemenhaft eine
Insel ausmachen. Das musste die Insel des Äskulapius sein, des Sohnes des
Apollo. Gegenüber wimmelte es vor Menschen zwischen all den Kais und den Kränen
der navalia – das mussten die Dockanlagen sein und dahinter die großen
Speicher, wo das Getreide zwischengelagert wurde, das zur Unterstützung ärmerer
Römer verteilt wurde. Kein Wunder, alle Lastkähne von Roms Hafen Ostia
drängelten sich hier wie Ferkel an den Zitzen des Muttertiers. […]
Gerade ging die Sonne hinter dem nächstgelegenen Hügel
auf, an dem er die alte Stadtmauer zu erkennen glaubte. Also lag hinter ihrem
Rücken Osten. Rechts von ihnen breitete sich das Feld am Tiber weiter aus, auf
dem bereits junge Soldaten ihr militärisches Training begannen und waghalsige
Wagenlenker den Staub bis in den Himmel warfen. Dahinter Stadtmauern und
weitere Hügel. „Dann führt ein anderer Kanal vom Esquilin über die Subura zum
Marsfeld?“ Gaius warf sich wieder zurück ins Gras. „Ach wer weiß schon welcher
Kanal wo hin fließt, seit der alte Etruskerkönig die Ebenen Roms entwässert
hat. Das Kanalsystem ist weit verzweigt. So viel ich gesehen habe, gibt es
viele Querverbindungen und Sackgassen. Diesen Ausgang hat vielleicht seit
Tarquinius Priscus niemand mehr zu Gesicht bekommen. Völlig zugewuchert und
fast vollständig unter Wasser. Ein Wunder, das wir da heil durch gekommen sind
– Mercurius sei Dank!“ Rufus rieb sich die Schürfwunden an Armen und Gesicht,
die er sich im Kanal zugezogen hatte. Gaius sah ein wenig peinlich berührt zu
ihm hinüber. „Ach was soll‘s“, grunzte er schließlich, ging zu Rufus hinüber
und packte seinen rechten Arm bis zum Ellenbogen: „Dir gebührt ebenso großer
Dank! Du hast mir das Leben gerettet. Schau mir in die Augen, Rufus, Sohn eines
Adligen aus dem fernen Norden: Jetzt bist du wirklich mein Bruder, nicht nur
irgendein Gastfreund meines Vaters!“ Gerührt verkniff sich Rufus eine Träne. Er
hatte sich schon immer einen großen Bruder gewünscht. Vor allem jetzt, wo seine
große Schwester als Geisel der Sueben in der Ferne weilte. „Bruder.“ „Bruder.“
Feierlich wandten sie sich gen Osten und sahen gemeinsam zu, wie die Sonne über
dem Kapitol aufging. Langsam tauchte sie Tempeldächer und Statuen in eine
rotgoldene Glut, deren Widerschein auf den einzelnen Strahlen bis zu ihnen zu
gleiten schien.
[…]
[Rufus und Gaius gelangen am Tiber entlang zur Via
Flaminia. Gaius kommt immer wieder auf seinen Groll auf Cicero zurück, dessen
Politik ihn zuletzt stark enttäuscht hat. Bei einem Klienten jenseits der
Milvischen Brücke versorgen sie sich mit neuen Tuniken. Rufus besticht den
Türhüter und nimmt mit den anderen am Unterricht teil, als wäre nichts
geschehen…]
„Rufus, hörst du mir überhaupt zu?“ Mit funkelnden Augen
starrte Crispus zu ihm hinüber. „Wann bist du ins Bett gegangen, sagst du?“
Rufus geriet ins Stottern. Zurück in Rom ließ sein Lehrer nichts mehr von der
einstigen Lässigkeit der Bucht erkennen: „Dein Latein war schon besser. Man
könnte glauben, du hättest überhaupt nicht geschlafen!“ „Man könnte glauben,
Crispus hat auch schlecht geschlafen!“, flüsterte Fabiulla, „und jetzt ist er
kraus im Kopf – crispus“. „Fabiulla! Das habe ich gehört.“ „Oh!“
Fabiulla schlug eine Hand vor den Mund, Lucius und Fabia kicherten. Crispus
verschränkte verärgert die Hände hinter dem Kopf. „Frauen!“, seufzte er.
„Langsam verstehe ich dich, Epikouros – und warum man die Ehe meiden soll. Kein
Wunder, dass die meisten Lehrer nur Jungen unterrichten wollen…“
Erleichtert lehnte sich Rufus im Sessel zurück. Jetzt kam
sicher wieder der übliche Protest der Mädchen und er hatte seine Ruhe. Doch
Crispus hatte sich noch nicht mit seinen Ausflüchten zufrieden gegeben. „Rufus,
willst du nicht noch etwas dazu sagen? Du ergreifst doch sonst so gerne Partei
für das weibliche Geschlecht, üblicherweise gespickt mit ethnographischen
Ausführungen aus deiner barbarischen Heimat?“ Rufus duckte sich in seinen
Sessel. Er konnte nicht verhindern, rot zu werden. „Rufus, erkläre uns doch
mal, wie es dazu kam, dass du eine neue Tunika anhast, in Soldatenrot - ganz
ohne Muster am Rand. So einen groben Stoff habe ich bei den Fabiern noch nie
gesehen!“Rufus erbleichte. Er erhob sich. „Verzeih magister, ich habe
deinen Unterricht vermutlich zur Unzeit gestört. Gestattest du, dass ich mich
zurückziehe? Ich komme später wieder…“ Verwundert blickten die anderen drei ihn
an. Crispus fasste Rufus am Arm und hielt ihn fest. „Nein ich gestatte nicht!
So weit kommt es noch. Du kommst mir aber gerade recht, wie es scheint. Hast du
dich schon einmal gefragt, wie man das Leben richtig lebt? Welches Verhalten
dein Leben bestimmen soll?“
Rufus zuckte mit den Schultern. Crispus ließ nicht
locker. Seine eiskalten blauen Augen hefteten sich unerbittlich an die seinen.
„Nun?“ Wie lebt man richtig? Was war das denn wieder für eine Frage? Da fiel Rufus
ein, was ihm der Druide Diviciacos gesagt hatte: „Du meinst so etwas wie den
Leitspruch der Druiden? Verehre die Götter, tue nichts Böses und übe dich in
Tapferkeit?“ „Nicht schlecht. Aber wie ist dein eigener?“ Rufus begann zu
schwitzen. Wusste Crispus, dass er gelogen hatte? Er dachte daran, was wohl
sein Vater gesagt hätte. „Die Ehre vielleicht?“ Crispus ließ ihn los.
„Interessant. Die Ehre… gehört da auch die Wahrheit dazu, für das Ehrenhafte?“
Rufus Ohren schienen zu pulsieren. Sicher war er purpurrot geworden. „Wie
wichtig ist honestum – das Ehrenhafte? Braucht man das auch für die
Tapferkeit und für die Verehrung der Götter?“ Rufus drückte sich tief in den
Sessel. Crispus füllte die Bibliothek der Fabier mit seinem meckernden Lachen.
„Wenn sich jemand für etwas schämen kann, dann muss er
wohl zumeist das Ehrenhafte tun. honestum – für manch einen ist das
schon das höchste Gut. Was glaubt ihr, was das höchste Gut ist, das man im
Leben erreichen kann?“ „Eine zufriedene Familie“, rief Fabiulla, „in der man
Spaß hat“. „Die Gunst der Musen zu genießen“, meinte Lucius. Crispus lachte.
„Damit sind wir schon wieder mitten in der Philosophie. Sehr schön, denn ich
möchte gerne in nächster Zeit damit abschließen und fürs erste wieder zu den
Grundlagen zurückkehren – oder jedenfalls zu dem, was die meisten Lehrer und
Eltern dafür halten… Mal sehen, ob ich das Gemeinsame deutlich machen kann:
Lucius wünscht sich den Genuss der Gunst der Musen, also Glück und Genuss in
seinem Lieblingsberuf – wobei das sein Vater und manch anderer Römer sicher
nicht als Beruf sehen würden.“ Lucius seufzte und ließ den Kopf hängen. „Aber
warum auch nicht. Fabiulla wünscht sich Zufriedenheit, Glück und Genuss in der
Familie. Und du, Fabia?“ „Genuss und Glück… das kann nicht ewig halten. Fortuna
ist wankelmütig. Auch bei Erfolg im Beruf und Familie kommt es vor, dass man
nicht immer glücklich ist. Denkt nur an Mutter! Ich bin für die Pflicht!“ Fabiulla
erhob sich erbost: „Die Pflicht? Du spinnst wohl! Was ist mit Spaß?“ Fabia
hielt dagegen: „Spaß als höchstes Gut im Leben? Wer bist du? Eine Römerin von
hoher Geburt oder irgendeine Barbarin – wenn nicht Schlimmeres, vielleicht
eine…“ Lucius warf sich zwischen seine Schwestern. „Jetzt beruhigt euch aber,
wir sollen doch lernen mit der Philosophie ausgeglichener zu werden, nicht
wütender!“
Crispus lachte vergnügt. „So geht es in Rom tatsächlich häufiger
zu, wenn man über die richtige Philosophie diskutiert. Da sind wir genau beim
Gegensatz von Stoa und Epikureismus, den zwei Richtungen der Philosophie, die
hier am meisten geschätzt werden. Rufus, da gibt es nichts zu gähnen,
schließlich beschäftigen wir uns auch deinetwegen mit der Philosophie. Wie war
das noch mit dem honestum? Die Lehre der Stoa meint, dass das höchste
Gut im Leben, das summum bonum gleichzusetzen ist mit ratio,
Vernunft und Logik und mit dem honestum“.
Rufus‘ Ohren schienen wieder zu glühen. Crispus schmunzelte. „Anscheinend hat
Rufus die Meeresstille oder die Windstille der Seele nicht erreicht, die das summum
bonum voraussetzt. Aber keine Angst, das kann man üben. Das war schließlich
der Grund dafür, warum wir philosophieren: zu schauen, wie die Philosophie »Arznei
der Seele« sein kann - aus dem Feld der Leidenschaften hinauszutreten und sich
auf die Ebene der Vernunft zu begeben...“
„Was sind denn nun Stoa und Epikureismus?“, fragte
Fabiulla ungeduldig. „Ein wenig mehr von Zenons Stoa würde dir auch nicht
schaden!“, entgegnete Crispus streng. „Die Pflicht gilt hier als wichtigstes
Mittel zur Erlangung von Glück. Deine Pflicht als Schülerin ist es, mir zuzuhören!“
Fabiulla senkte den Kopf - allerdings nur, weil sie lieber mehr über die Stoa
als eine Strafpredigt hören wollte. „Also, die Stoa Zenons und der Epikureismus
des Epikouros. Darin, was das höchste Gut -summum bonum- ist, das der
Mensch erreichen kann, darin sind sich beide Richtungen einig: Ein glückliches
Leben zu führen, bei dem die Seele ausgeglichen und ungestört von Stürmen der
Gefühle ist. Wie dies jedoch aussehen soll, da unterscheiden sie sich: Logik, Tugend,
das Ehrenhafte, so Zenon. Logik findet auch Epikouros gut, jedoch nur um
positive Lust anzustreben und dabei Schmerz als negative Lust zu vermeiden.“
Rufus war interessiert: „Wie kann man das Glück denn erreichen,
das von dieser Ausgeglichenheit kommt? Wie kann man Gefühle wie Heimweh und so
beherrschen?“ „Nun, indem man sich auf das beschränkt, was natürliche und
naturnotwendige Bedürfnisse sind, würden beide sagen. Also nicht schlemmen, nur
essen, um satt zu werden. Alles Seiende ist für Zenon wie für Epikouros rein
materiell: Ohne Materie gibt es weder Leiden noch Wirken. Deshalb soll man
keine Angst vor den Göttern haben. So wollen beide den Menschen durch die
Philosophie aufklären, vom religiösen abergläubischen Eifer, von allzu viel
Beten und Opfern abbringen und zum rechten Leben hinführen.“
Fabia blieb der Mund offen stehen. „Leugnen die Beiden
etwa die Götter? Das wäre doch ein Frevel! Was ist denn dann noch virtus und
die Verpflichtung zur politischen Tätigkeit wert? Was ist mit do, ut des
-ich gebe, damit du gibst- unseren Staatskulten und dem Vertragsverhältnis
zwischen Menschen und Göttern? Wenn wir unsere Riten vernachlässigen, wozu
sollten die Götter noch für uns eingreifen wollen?“ Rufus gähnte jedoch nur.
Auch Lucius und Fabiulla waren kaum überrascht. Dafür hatten sie schon zu viele
Philosophen kennen gelernt, die weit weniger auf die Götter zu geben schienen
als Fabia oder die herrschende Meinung in Rom – öffentliche Kulte hin oder her.
Es gab auch einfach zu viele, um sie alle beachten zu können, befand Rufus.
Fabia dagegen schnaubte aufgeregt.
Crispus grinste. „Du kannst dich wieder beruhigen, Fabia.
Keine Angst, ich lehre keine gottlosen Lehren - nur philosophische Ansichten.
Das weißt du doch.“ Lucius ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen: „»Über die
Götter kann ich nichts feststellen, weder ob es sie gibt oder nicht, noch wie
sie aussehen«“, zitierte er Protagoras. „Vielleicht haben Zenon und Epicurus
erkannt, dass es keine Götter gibt?“ Fabia warf ihrem Bruder einen wütenden Blick
zu. Crispus hob beschwichtigend die Hände: „Nein, so weit gingen sie nun doch
nicht. Epikouros nahm die Lehre der Atomisten auf: Die Götter bestehen wie
alles andere auch aus Atomen und leben in den Zwischenräumen zwischen den
Welten. Von dort haben sie gar keine Möglichkeit, in die irdischen Geschehnisse
einzugreifen. Sie führen dort ein seliges Leben, vergleichbar dem des
Philosophen, nur viel vollkommener. Wir müssen uns daher nicht um sie kümmern.“
Fabia zog ein Gesicht und wollte etwas erwidern. Crispus
fuhr jedoch ungerührt fort. „Bei Zenon ist das Wesen der Natur dagegen nicht
das Spiel der Atome mit seinem sinnlosen Zufall, sondern es gibt ein mächtiges
Naturprinzip: Feuer, Lebenshauch, Geist, Vernunft oder Schicksal - all das ist
eine Gottheit: »Gott ist ein unsterbliches, mit Vernunft und Geist begabtes
Lebewesen, vollkommen in seiner Glückseligkeit, unzugänglich für alles
Schlechte, vorsorgend für die Welt und für das, was in der Welt ist«. Nach
Zenon können sich die Götter um die menschlichen Dinge kümmern. »Gott ist in
die Welt einbegriffen, er ist ihre Seele«, weil »die Vernunft jeden Teil der
Welt durchdringt«, ist diese »vernünftig und beseelt und verständig«. Die Natur
ist selber »göttlich«. Dennoch wollen beide Philosophen, dass die Menschen sich
mehr um sich selbst und weniger um die Götter kümmern.
Fabiulla hüpfte von ihrem Sessel: „Wie kamen die beiden
denn da drauf? Wie konnten die dasselbe Ziel haben, aber genau das Gegenteil
fordern, wie man da hinkommt?“ Crispus zwirbelte anerkennend seinen Bart. „Eine
gute Frage! Vielleicht durch ihren Lebensweg? Beide kamen tatsächlich auf
unterschiedlichen Wegen zu ihrer Philosophie: Epikouros war schon von Beginn an
Philosoph. Das nötige Kleingeld für den Lebensunterhalt kam von seinen Eltern.
Epikouros hat bei einem Schüler des Atomisten Demokritos zu studieren begonnen,
ging später ins Exil, gründete zuerst in Mytilene und Lampsakos erste Schulen
und schließlich als Prophet der Lust in Athen sein Gärtchen, das
gleichbedeutend mit seiner philosophischen Richtung wurde.
Zenon wurde erst später ein Philosoph. Er war zuerst im
Handel beschäftigt und hat sehr hart gearbeitet. Als Zenon bereits ein erfolgreicher
Händler war, erlitt er einen Schiffbruch, worauf er von einem Buchhändler
aufgenommen wurde und in die Philosophie einstieg. Da er es gewohnt war, immer
etwas zu tun, hat er sich dort die Bücher vorgenommen und ist auf den Geschmack
gekommen. Zenon traf sich dann mit seinen Schülern in einer Säulen- bzw.
Wandelhalle, der Stoa Poikile in Athen, einem öffentlichen Bauwerk. So streng
und ernst wie das Gebäude ist auch seine Philosophie, er wurde so der Prophet
der Pflicht.“ Rufus versuchte aufmerksam zuzuhören, doch langsam machte sich
die durchwachte Nacht immer stärker bei ihm bemerkbar: Nur mühsam konnte er die
Augen offen halten.
„Und so wie die Stoa für Pflicht steht, so steht der
Epikureismus für den Genuss“, fuhr Crispus fort. „Den mag ich lieber“, murmelte
Fabiulla. „Fabiulla! Wenn du glaubst, Epikouros von Samos sei nur dafür, den
größtmöglichen Spaß zu erleben, dann irrst du dich gewaltig! Hör lieber zu: Den
Vorsatz, im Leben die Lust zu maximieren, den Schmerz zu minimieren und
hemmungslos zu genießen, gibt es auch. Doch nennt sich diese Richtung
Hedonismus und geht auf Aristippos zurück. Epikouros lehrt dagegen das
Lustkalkül: Alles, was zu einem späteren Zeitpunkt Schmerz verursacht, darf
nicht genossen werden: Wer zu viel oder ungemischten Wein trinkt, der bemerkt
das am nächsten Tag oder sogar Tage danach – er fühlt sich krank. Man darf also
nur wenig trinken, ohne jemals in den Vollrausch zu kommen. Der Schmerz an
Arbeit muss man auf sich nehmen und auf Faulheitsgenuss verzichten, um sich am
Lohn der Mühen zu erfreuen. Das heißt, ihr als meine Schüler müsst meine
Aufgaben erledigen und mir zuhören, um euch später an guten Leistungen zu
erfreuen und nicht von mir geschimpft zu werden. Nicht wahr Rufus?“
Rufus riss die Augen wieder auf. „Was? Wie? Ach ja, ich
bitte dich um Verzeihung, Magister.“ Crispus knirschte mit den Zähnen. „Immerhin…
die rechte Lebensfreude wird durch den Genuss eines jeden Tages und die
Vermeidung von Unlust erreicht, indem man Furcht, Schmerz und Begierden meidet.
Dies führt zu Einsicht und stabiler Daseinslust: »Die schönste Frucht der
Selbstgenügsamkeit ist die Freiheit«, wie der Philosoph sagt. Nach Epikouros
soll man sich auch besser aus der Politik heraushalten und zurückgezogen leben
-λάθε βιώσας (lathe bioosas)- »Lebe im Verborgenen!« »Man muss sich aus dem
Gefängnis der Geschäfte und der Politik befreien«. Freundschaft ist der
wichtigste Wert. Abgeschieden, am besten in seinem Garten, soll man dann die
Seelenruhe genießen, mit abgewogenem und stets maßvoll dosiertem Genuss. Nicht
einmal den Tod braucht man zu fürchten: Nur was wir empfinden, ist für uns
Realität: Den Tod kann man nicht empfinden: »Wenn wir sind, ist der Tod nicht, und wenn
der Tod ist, sind wir nicht«.“
„Quaeso - wie bitte?“ Lucius war verwirrt. Die Götter
weniger mit Gebeten zu ehren war eine Sache, das war er von Sophisten und
Naturphilosophen schon gewohnt. Aber den Tod nicht zu fürchten, das war etwas
ganz anderes. „Jeder hat doch Angst vor dem Tod! Glaubt Epicurus denn, dass
böse Menschen keine Strafen im Jenseits erleiden müssen?“ „Ein eindeutiges »Nein«!
Die Verbindung der Atome, des Körpers und der Seele lösen sich auf, das menschliche
Individuum zerfällt einfach - Schluss aus: keine Wiedergeburt, keine Strafen,
keine Belohnungen -im Jenseits wie im Diesseits-, kein Schicksal.“ Fabia und
Lucius atmeten tief durch, während sie die Ansicht Epikurs sacken ließen.
Fabiulla rieb nachdenklich ihren Finger an ihrer Nase. „Niemand der einen
straft? Kein Gott, dem man Rechenschaft über sein Leben ablegen muss, was man
getan hat? Keine Waage des Schicksals wie bei Homer – keine
Schicksalsgöttinen?“ „Nein. Nichts, was einen daran hindern kann, das Leben mit
all seinen Freuden zu genießen. τετραφάρμακον (Tetrapharmakon) - vier
Mittel sind es also, die nach Epikouros zum glückseligen Leben führen: die
richtige Auffassung von der Natur der Götter -sie sind ohne Bedeutung-, vom Tode
-er geht uns nichts an-, von der Lust -sie ist zu suchen- und vom Leiden -es
ist zu meiden-.
„Daran könnte ich mich gewöhnen“, freute sich Lucius.
„Schreiben gehört auch zu dessen maßvollem Genuss, oder?“ „Ja, nur von der Ehe
sollte man sich nach ihm auch fernhalten. Das bedeutet oft Schmerz…“ „So ein
Frauenfeind!“, platzte es aus Fabia heraus. „Sein pflichtloses Glück kann mir
gestohlen bleiben! Jetzt möchte ich aber etwas über die unbeugsame Tugend des
Zenon hören! Oder verzichtet auch dieser Grieche auf Frauen und Kinder?“
Crispus lächelte. „Schon ganz die ehrbare Römerin, Fabia? Immer im Dienste der mores
maiorum? Nun ja, Zenon ist bei den konservativen Politikern Roms am
beliebtesten – jedenfalls in der Theorie…. Zuerst kann ich dich beruhigen: Für
Zenon sind Ehe und Kinder sogar staatsbürgerliche Pflichten. Zenon sieht in
allen Naturerscheinungen ein waltendes göttliches Prinzip, logos – die
Weltvernunft. Allen Menschen überall in der Welt ist diese Weltvernunft zuteil
– auch Barbaren und sogar Frauen. Gerechtigkeit ist daher im Menschen als
Naturrecht angelegt. Das Naturrecht verbindet alle Menschen untereinander. Wer
nach der Weltvernunft und gemäß der Natur und ihrer Gesetze lebt -secundum
naturam vivere-, erreicht Seelenruhe.“ Fabia blähte begeistert ihre
Nasenflügel. „Aber wie lebt man nun zugleich gemäß der Natur als auch mit
Tugend und Pflicht?“ „Da hast du’s!“, wandte Lucius ein. „Die Tiere handeln
doch nicht nach Pflicht, sondern nach ihren Gefühlen oder? Epicurus ist
logischer!“ Crispus streckte abwehrend die Arme aus. „Nicht so schnell! Wartet
einfach ab. Leben wie die Tiere, dass ist Sache der Kyniker, die ihren Trieben
freien Lauf lassen. Zenon suchte dagegen nach strengster Kontrolle über alle
Gelüste und Emotionen des Menschen, um die Seele zu befreien. Die Beschäftigung
mit der Philosophie als Streben nach Weisheit verhindert dabei die Affekte und führt
so zu innerer Freiheit, über welche die Tiere nicht verfügen können. Für Zenon
ist der Mensch immer Teil einer Gemeinschaft ein »zoon politikon« - ein Gemeinschaftswesen,
so dass die Beschäftigung mit Politik die Pflicht der Tugend ist. Diese steht
aber im Einklang mit dem Universum, also auch mit der göttlichen Natur.“ Fabia
strich ihre langen Haare zurück. „Zenon möchte also die menschliche Natur
überwinden und in jeder Lage stets die Tugend bewahren?“ „Ja. Genau das. Das
macht das Glück des Weisen aus: »Der Weise erkennt die Tugend, lebt sie und ist
glücklich«, meint Zenon - selbst unter Folter. Stets muss man emotionale
Selbstbeherrschung einüben und sein Los akzeptieren. Dies bedeutet, stets
tugendhaft zu handeln. Dabei führen Gelassenheit und Seelenruhe bzw. ataraxia
-Unerschütterlichkeit- zur Weisheit. Meditieren und Gewissensprüfung treibt die
Selbstvervollkommnung voran…“
Crispus wurde von einem Plumpsen unterbrochen, das in ein
lautes Schnarchen überging. „Diese Art der Meditation habe ich damit eigentlich
nicht gemeint! He, Rufus, wach auf!“ Doch Rufus lag weiter ungerührt am Boden
und schlief tief und fest, selbst als Fabiulla ihn in die Seite pikste. Dabei
verrutschte der Lederzylinder. „Dafür demonstriert er eindeutig die Ataraxie
des stoischen Weisen“, gluckste Lucius, „unerschütterlicher kann man kaum die
Unbill des Gewecktwerdens ertragen.“ Crispus beugte sich zu Rufus herunter.
„Hab ich mir doch gleich gedacht, eine Schriftrolle. Das war’s also, was er die
ganze Zeit unter seiner Tunika hatte. Wenigstens keine Waffe….“ Vorsichtig
schob Crispus den Zylinder heraus und nahm die Schriftrollen aus dem Lederetui.
Der zweite Band war ungleichmäßig aufgerollt, darin musste zuletzt jemand
gelesen haben. „»Ister - Danuvius? … entspringt bei den Kelten und der Stadt
Pyrene, strömt mitten durch Europa hindurch und teilt es…«. Inzwischen
hatte Fabiulla die Wasserkaraffe vom Tisch geholt und näherte sich kichernd
Rufus‘ Kopf. „Nein, lass ihn schlafen!“, nahm ihr Crispus lächelnd die Karaffe
weg und tippte sanft mit dem Zeigefinger auf die Schriftrolle: „Herodotos und
die fremden Völker des Nordens. Er ist gerade dabei, das summum bonum
auf seine Art zu erreichen. Wenigstens im Traum kann er sein persönliches höchstes
Glück erleben. Lasen wir ihm den Genuss, mit seiner Familie und seinen Freunden
vereint zu sein. Ich möchte nur wissen, woher er die »Historien« hat, die histories
apodeixis des Herodotos. Aus der Bibliothek der Fabier jedenfalls nicht.“
[Die nächsten Tage verlaufen für Rufus enttäuschend
ruhig – und viel zu heiß! Nur ein drahtiger Mann mit Narbe Scheint ihn ständig zu
verfolgen – oder ist das Einbildung?]
[An den Iden des Sextilis, dem Fest des Jupiter und dem
Jahrestag der Tempelweihe des Hercules-Victor darf Rufus überraschend seinen
Geburtstag feiern, fast wie ein richtiger Römer. Lucius nimmt ihn später mit
seinen Schwestern und den Leibwächtern sogar ins Theater mit, wo sich Gaius, Marcus
Antonius und Clodius hinzu gesellen…]
„Du hast also noch nie auf der Bühne gesehen, wie bei
Plautus geliebt, geprügelt und geschimpft wird?“, fragte Gaius, der sich das
schlichtweg nicht vorstellen konnte. „Keinen verliebten Jugendlichen der gegen
seinen strengen Vater bestehen muss? Keine zickige Ehefrau, geldgeile Prostituierte,
keinen prahlerischen Soldaten? Keinen schlauen Sklaven, der seinen autoritären Herrn
zur Vernunft bringen muss?“ „Ssst – silentium da vorne!“
Der Lar stellte inzwischen im Prolog die Vorgeschichte
und die Personen vor: Ein Geizhals aus einer Familie von Geizhälsen mit einem
vergrabenen Topf voll Gold, über den der Lar wachte. Hinzu kam noch eine fromme
und hübsche Tochter, die am Ceresfest verführt wurde und allerlei Verwicklungen
um die Heirat, den Liebhaber und seinen Onkel. Als das Stück begann, fand Rufus
die maskentragenden Darsteller und ihre Gesten zunächst ein wenig übertrieben
und die Gesangseinlagen gewöhnungsbedürftig, aber es gefiel ihm gar nicht
schlecht. Die Musik wirkte immer ansprechender. Der Dialog zwischen dem
Nachbarn Megadorus und dessen Schwester war sehr komisch, immer beendeten sie gegenseitig
ihre Sätze und fielen sich ins Wort. Die Diskussion um eine Hochzeit klang
dabei wenig würdevoll: „Um Kinder zu bekommen…“ „…, was die Götter gewähren
mögen…“ „musst du heiraten…“ „Oh ich sterbe!“ „Warum das denn?“ „Weil mir deine
Worte das Hirn rauswerfen, du redest Steine!“„He, mach, was deine Schwester dir
befielt!“ „Wenn ich Lust dazu habe…“ Also mussten sich auch die Hauptfiguren
bei Plautus entscheiden zwischen Lust und Pflicht. Ob Plautus vielleicht die
Schriften von Epikur und Zenon gelesen hatte?
Doch lange konnte man bei Plautus nicht ernst bleiben. Im
weiteren Verlauf mussten Rufus und die andern immer wieder losprusten.
Beispielsweise machten die Sklaven lauter Witze über den Geiz des alten miser,
der ja so geizig war, dass…: „Ja, wenn er schlafen geht, bindet er sich einen
Sack ums Maul.“ „Warum?“ „Damit ihn nicht vielleicht im Schlaf ein Hauch
verloren geht.“ „Verstopft er sich auch die untere Gurgel, damit ihm dort im
Schlaf kein Hauch verloren geht?“ Im Publikum schlugen sich manche vor Lachen
auf die Schenkel, andere johlten. Gaius wischte sich eine Träne aus den Augen:
„Väter - ha! Genauso sind sie!“ „Na da sprich mal nur für die langweiligen miseri
wie deinen Quintus…“ Die Schauspieler unterstützten ihren Text mit den komischsten
Verrenkungen, Antonius musste lachen. „Bei Sura habe ich jedenfalls keine
Probleme.“ „Glückspilz! So einen
Stiefvater hätte ich auch gerne“, murmelte Gaius.
Unvermittelt gellten erste Buhrufe durchs Publikum. „Ist
das Publikum so verwöhnt?“, wunderte sich Rufus. Die Schauspieler machten ihre
Sache doch ganz hervorragend. Doch die Gesichter der Zuschauer hinter ihm
strahlten keine Freude aus. Für einen kurzen Moment dachte er sogar, wieder den
Mann mit der Narbe zu sehen, bis ihn Gaius anstieß: „Marcus Otho!“ Gaius hatte
die Augenbrauen zusammengezogen und zeigte nach schräg links vor ihnen: Rufus
folgte dem ausgestreckten Finger. Dort drängte sich ein Spätankömmling durch
die Reihen. Er brauchte aufreizend lange, um sich zu setzen und machte auch keinerlei
Anstalten, sich klein zu machen. Von hinten wurde höhnisches Pfeifen laut, von
den vorderen Reihen kam Beifall. „Otho hat im Senat durchgesetzt, dass auch der
Ritterstand reservierte Plätze bekommt. Kein Wunder, dass man ihn nicht mag.“ Gaius
musste jetzt schon lauter sprechen, damit Rufus ihn verstehen konnte. Marcus Otho
dagegen trug ein spöttisches Grinsen zur Schau und ließ sich auf einem riesigen,
purpurfarbenen Kissen nieder. Die Ritter begrüßten ihn mit lautem Klatschen.
Von hinten mischten sich Beleidigungen unter die Buhrufe und Pfiffe, die
Ritterschaft verstärkte darauf ihr Beifallsklatschen. Ein gellendes
Pfeifkonzert setzte ein. Erste Beschimpfungen flogen hin und her. Aulus und
Thrax erhoben sich von ihrem Sitz uns verschafften sich einen Überblick. Die
Saalordner und Liktoren versuchten ihr Bestes, schafften es aber nicht einmal,
die größten Streithähne zu trennen. Thrax knirschte angespannt mit den Zähnen,
Antonius war amüsiert, Clodius entzückt.
Das Volk und die Ritterschaft gerieten jetzt ernsthaft
aneinander und beschimpften sich immer wütender. Schließlich war das ganze
Theater in Aufruhr. Aulus prüfte mit kampferprobtem Blick, durch welchen
Ausgang man sich durchschlagen konnte, dann bedeutete er Lucius und Rufus, ihm
zu folgen. Er packte Fabia und Fabiulla am Arm, dann hastete er zusammen mit
Lucius hinter Thrax die Stufen hinauf, weg vom Gedränge. Rufus wäre ihnen
gefolgt, doch Antonius hielt ihn schmunzelnd fest: „Wie, du willst schon gehen?
Beim Herakles, das Beste kommt doch noch! Jetzt wird es erst richtig lustig!“
An eine Fortsetzung des Theaterstücks war nicht mehr zu denken, die
Schauspieler waren längst hinter der Bühne verschwunden. In der Reihe vor ihnen
wurden die ersten bereits handgreiflich, die Liktoren waren hoffnungslos
überfordert und gerieten selbst schon in Keilereien. Rufus machte sich auf das
Schlimmste gefasst. Er umklammerte den Dolch, den er unter seiner Tunika
versteckt hatte und schickte ein stilles Stoßgebet zu den Göttern. So schnell
konnte man also in Rom zwischen Komödie und Tragödie wechseln…
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