Der Skorpionmensch
tat den Mund auf: [...]
„Des Berges Inneres
hat niemand durchschritten,
Auf zwölf Doppelstunden
ist finster sein Inneres!
Dicht ist die
Finsternis, kein Licht ist da!
Zum Sonnenaufgang
lenkt sich der Weg,
Zum Sonnenuntergang [...]“
[…]
Als er eine
Doppelstunde weit gedrungen:
Dicht ist die
Finsternis, kein Licht ist da,
Nicht ist ihm vergönnt
zu sehen, was hinten liegt.
Als er zwei
Doppelstunden weit gedrungen:
Dicht ist die
Finsternis, kein Licht ist da,
Nicht ist ihm
vergönnt zu sehen, was hinten liegt.
Als er drei
Doppelstunden weit gedrungen:
Dicht ist die
Finsternis, kein Licht ist da,
Nicht ist ihm
vergönnt zu sehen, was hinten liegt.
[…]
Die
restlichen Meilen seien dem Leser erspart – er kann sie sich leicht denken - es
geht entsprechend weiter, aber „als er
zwölf Doppelstunden weit gedrungen, herrscht die Helle.“ Endlich draußen…
Ein
merkwürdiger Eindruck, doch ohne Frage Dichtung in Versen; im Original
vermutlich recht wuchtig, 2 x 2 Hebungen mit je 1-2 Senkungen (bisweilen 2 x 3
Hebungen, selten 3 x 2 (laut WWW-Quelle).
Wer es noch nicht erraten hat, es handelt sich hierbei um das Gilgamesch-Epos [neunte Tafel], der vermutlich älteste Mythos der Menschheitsgeschichte
und eines der frühesten erhaltenen Schrift-Dokumente überhaupt. Die überlieferten
babylonischen bzw. genauer akkadischen (ab 1.800 v. Chr.), sumerischen und hetitischen Fassungen gehen alle auf
eine Urform des 24. Jahrhundert v. Chr. zurück – über 4.000 Jahre!
Uralte Dichtung also. Aber wie funktioniert Dichtung in einer uralten Sprache? Dazu ein erstes Einführungsvideo auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=XNmX-nDxj2s
Da
stellt sich die Frage, was generell das besondere an Dichtung ist: Wozu überhaupt Verse
und immer gleiche formelhafte Wendungen? Ein Blick nach oben hilft, bereits das
Gilgameschlied führt einem den Nutzen und die Entstehungsgeschichte von Dichtung
in Versen vor Augen:
Man
kann dem Vortrag folgen - oder auch einen erschaffen -, ohne unbedingt Lesen
und Schreiben zu können. Gerade das Epos fußt zuallererst auf mündlicher
Weitergabe, bzw. mündlicher Überlieferung (Oral Poetry) und Sprechgesänge.
Die
Versform hilft schlicht und ergreifend, sich den Inhalt besser merken zu können (Memorierhilfe), wie im Gilgameschepos
jeder nach der dritten Meile die Ereignisse der folgenden Meilen automatisch im
Kopf hat.
Zusätzlich
hilft das Versmaß beim Vortrag, antike Dichtung besteht (zuallermiest) nicht aus der Abfolge von einzelnen Betonungen, den Hebungen (Iktus, akzentuierenden
Metrik) oder gar neuzeitlichen Reimen sondern aus metrisch regelmäßig gegliederter Rhythmen in
bestimmten Versmaßen. So kommt man leicht in Flow und der Sprechgesang fließt. Die Versmaße sind dabei ähnlich wie in der Musik in Metren gegliedert,
die auf griechisch durchnummeriert werden (wie schon der Begriff Metron - Tetrameter: 4 Metren, Pentameter: 5
Metren, Hexameter: 6 Metren).
Solche Verse
kann man sich besser merken und weiter erzählen, in einem festen Liedrhythmus ist es noch viel
leichter. Wie genau sehen diese Rhythmen aus? Dazu werden in den nächsten Blog-Artikeln
folgende Versmaße erklärt und mit Hörbeispielen und Anleitungen zum metrischen
Lesen (Skandieren) ausgerüstet:
Weitere Schritte zum Skandieren antiker Dichtung finden sich unter:
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