Die „Rufus“-Reihe soll jeder verstehen und genießen können, Jugendliche und Erwachsene, Studierte und Nichtstudierte. Wer sich im Roman auf fremde Welten einlässt, der wird auf unterhaltsame Weise ganz automatisch kennenlernen, was die damalige Zeit so alles zu bieten hatte - und lernt beim Lesen wie von selbst. Alles so authentisch und historisch korrekt wie möglich zu erzählen und dabei spannend zu bleiben, das ist mein Ziel.
Die „AMORES - Die Liebesleiden des jungen Ovid“ sind dagegen nicht immer ganz jugendfrei (wie auch die Originalverse Ovids und seiner Zeitgenossen). Der Laie kann sich über die „moderne“ Sprache & Handlung freuen, der Fachmann über zahlreiche Anspielungen und intertextuelle Scherze.
Auf dem Blog zeige ich einen Blick hinter die Kulissen. Dabei gebe ich auch Hintergrundinformationen über Politik und Alltagsleben der späten Republik und frühen Kaiserzeit in Rom und einiger Kelten- und Germanenstämme.
Feste Probeleser aus verschiedensten Altersgruppen haben bereits die ersten Bände gelesen. Die Rückmeldungen setze ich um. Sehr gute Feedbacks kamen dabei nicht nur von Universitätsprofessoren und anderen Fachleuten sondern gerade auch von Schülerinnen und Schülern - vielleicht demnächst auch von dir? Gerne nehme ich jede gute Anregung auf (Rufus.in.Rom@gmail.com)...

Montag, 29. Dezember 2014

VIII. Cicero. Leseprobe aus "Catilina und die Jugend Roms"

Es folgt ein Auszug aus Kapitel Acht (aus dem zweiten Band gibt es bisher Ausschnitte zum ersten, zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten und siebten Kapitel). Anregungen und Kommentare sind wie immer erwünscht (Rufus.in.Rom@gmail.com)!

Kapitel VIII: Cicero
Porträt von Cicero / Cicero mit überraschtem Gesichtsausdruck
Schwer zu überraschen - Cicero
[…]
[Rufus erfährt von Gaius über das Menschenbild und Weltbürgertum des Plautus. Cicero gelingt es, die zerstrittenen Parteien durch eine mitreißende Rede zu versöhnen. Clodius, Antonius und Gaius schleppen Rufus in eine dunkle Taverne mit, wo sie auf ihre Weise seinen Geburtstag feiern.]
            Am nächsten Morgen war Rufus kaum aus dem Bett zu bekommen. Ob etwa das Kleinbisschen Wein daran schuld war? Zwar hatte er hin und wieder am Becher genippt, aber nie viel, immer nur ein Bisschen. Lustig war es schon gewesen, so mit dem vielen Geld zum Würfelspiel, Wein so viel man wollte – und für alle Gäste… und war da nicht noch etwas mit Tänzerinnen oder Akrobatinnen gewesen? Auf jeden Fall hatte das Ganze ausgereicht, auch wenn er nicht richtig mitgetrunken hatte und immer wieder heimlich etwas weggeschüttet hatte. Jetzt schienen seine Haare wie winzige Nadeln in seinem Kopf zu stecken, die Zunge klebte trocken an seinem Gaumen und seine Augen und sein Hals brannten. Nur gut, dass Gaius heute an einem dies fastus wieder Sura vor Gericht helfen musste – sonst wären die wohl gar nicht mehr schlafen gegangen.
            An der Türe zur Bibliothek fing ihn Apollonius ab: „Der Herr wünscht dich zu sprechen. Du sollst umgehend zu ihm ins Tablinium kommen.“ „Jetzt? Während das Atrium voller Klienten ist?“ Apollonius schnaubte verächtlich. „Nein, sofort! Er muss es für wichtig halten, der Herr hat mich persönlich damit beauftragt, dich zu holen.“ Und als er in Rufus fragendes Gesicht blickte, fügte er seufzend hinzu: „Vielleicht doch eher eine Fehleinschätzung. Was für eine Verschwendung meiner wertvollen Arbeitszeit…“
            Als Rufus durch das Atrium lief, schmerzte ihn der Widerschein der Sonne im Impluvium in den Augen. Zu seiner Überraschung war das Atrium fast leer. Doch war seine Vermutung nicht ganz falsch gewesen, der Vorraum zum Tablinium war voller Klienten. Nur dass die einfacheren Bürger wohl schon mit den sportulae-Körben versorgt worden waren. Die Togaträger hinter der Abtrennung sahen alle sehr gepflegt aus und gingen ihr Anliegen mit Hilfe ihrer Sklaven und Wachstäfelchen noch einmal durch, bevor sie bis zu Quintus vorgelassen würden. Dennoch führte ihn Apollonius sogleich hinter den Paravent und schob ihn ungeachtet der indignierten Blicke der Wartenden direkt durch die schwere Eichentüre – ohne zu Klopfen. Es war Thrax, der Leibwächter, der sie von innen wieder schloss und sich dann kaum wahrnehmbar im Halbdunkel hinter den Regalschränken aufstellte. Von hier hatte er sowohl die Tür zu den wartenden Klienten als auch die Tür zum Nebenzimmer im Blick. Das Arbeitszimmer: Es roch nach poliertem Holz, wie die Kassetten der Türe, nach Leder, nach Pergament, nach Lampenöl und nach Papyrus.
            Quintus erhob sich mit einem Ruck von seinem Schreibtisch. „Salve Quinte!“ begrüßte ihn Rufus schnell. Ältere und ranghöhere musste man in Rom immer zuerst grüßen, wenn man sie nicht beleidigen wollte – Quintus hatte ihm aber nicht genügend Zeit gelassen und war noch davor aufgestanden. „Salve, salve“, murmelte er nur kurz angebunden. Er trat auf Rufus zu und sah ihm direkt in die Augen: „Was haben die Allobroger und du getan, dass Cicero euch sehen will?“ „Ci-ce-ro?“, fragte Rufus verdattert. „Ja Ci-ce-ro. Der Konsul persönlich. Marcus Tullius Cicero. Ich höre?“ „Die Allobroger und ich? Kei-ne Ah-nung“, stotterte Rufus überrascht, „Crixos, Catugnatos und Ollugnio – habe ich doch seit Tagen nicht mehr gesehen. Sind sie nicht noch immer außerhalb?“ „Nicht mehr lange, zumindest – schon gestern habe ich einen Boten geschickt, sie müssten in Kürze hier sein… und du – wo warst du in letzter Zeit überall? Bist du sicher, dass du nichts Besonderes angestellt hast?“
            Quintus musterte ihn genau. Rufus vermied es, ihm in die Augen zu schauen. Wusste Quintus bereits, dass er sich in letzter Zeit öfter mit Gaius herumgetrieben hatte? Aber das machten andere Jugendliche auch, allen voran Marcus Caelius, Marcus Antonius, Vedius Pollio und sogar der hochadlige Clodius. „Nein, eigentlich, ich wüsste nicht was“, brachte er mühsam heraus. Ob Quintus den Besuch bei Catilina meinte? Aber wenn Rufus ihm davon erzählte, dann wäre zwischen Quintus und Gaius die Hölle los. Nein, das konnte er nicht riskieren, das seinem neuen Bruder anzutun, selbst wenn Quintus bereits etwas ahnen sollte. Lieber würde er jede Art von Bestrafung auf sich nehmen. Quintus kniff die Augenbrauen zusammen: „Du wüsstest nicht was? Und was hat der junge Schutzbefohlene meines Gastfreundes da in den Haaren?“ Quintus zog ihm ein Haarband aus dem Schopf. „Ist das etwa von einer… Nein, nicht doch in deinem Alter – oder doch?“ Oh je, das war ein Stoffband von einer der Tänzerinnen. Wie war das denn in sein Haar gekommen? „Und da auf deiner Brust – sehe ich da Weinflecken?“
            Bestürzt sah Rufus an sich herunter. Das war ihm beim schnellen Waschen vorhin gar nicht aufgefallen. Das musste passiert sein, als er heimlich Wein ausgespuckt hatte. Quintus holte tief Luft, dann setzte er sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er legte sich die Hände über die Stirn und seine Kopfhaut. „Hör mal, Rufus, ich bin keineswegs einer dieser alten vertrockneten Augenbrauenrunzler und Naserümpfer, welche nur die Nobilität achten und alle anderen verachten - besonders fremde Völker. Ich freue mich auch wirklich, dass du dich mit meinen Kindern so gut verstehst – neuerdings mit meinem ältesten Sohn sogar mehr als meine Söhne untereinander. Deswegen musst da aber nicht gleich seine Gewohnheiten annehmen, das heißt die unrömischen – nun, du weißt sicher, was ich damit meine…“ Ja, das glaubte er inzwischen zu wissen. Schuldbewusst sah Rufus zu Boden. So sahen sich die Römer: Selbstbeherrschung und Pflichterfüllung wie ein Stoiker, ganz im Sinne Zenons. Die Nächte durchzumachen, hemmungslos zu trinken, zu tanzen und Frauenbekanntschaften zu machen, das hieß auf Lateinisch dagegen per-graecari – sich wie ein Grieche benehmen oder »durchzugriechen“.
            „Sei‘s drum!“, rief Quintus nach einer Weile. „Wenn du es auch nicht weißt… vielleicht interessiert sich unser guter Konsul neuerdings gezielt für den Gallienhandel, wo er doch seine lukrative Provinz an Antonius Hybrida abtreten will. Oder sind die Allobroger tatsächlich mit ihren Bitten bis zu ihm durchgedrungen? Will er es tatsächlich riskieren, sich mit den Steuerpächtern anzulegen, um die Wirtschaftskraft der Allobroger zu retten? Zuzutrauen wäre es ihm. War das ein Wirbel, als er sich damals um die Sizilianer gekümmert und ihren Statthalter Verres angeklagt hat…“ Quintus holte noch einmal Luft, hielt den Kopf schräg und warf einen letzten lauernden Blick auf Rufus. Doch Rufus hatte noch immer keine Ahnung, was eigentlich los war. „Hier“, ließ Quintus schließlich ein Bündel Täfelchen über den Tisch rutschen. Sie waren aus wertvollem lackiertem Holz. Am erbrochenen Siegel glaubte Rufus eine Kichererbse im Wachs zu erkennen. „Das hat gestern ein Mann bei Cerberus abgegeben. Reinkommen wollte er nicht. Ungewöhnlich für einen Bediensteten eines so hohen Beamten. Aber vielleicht hatte er einfach wenig Zeit. So wie ich auch. Sobald die Allobroger da sind, macht ihr euch auf den Weg. Ist ja gleich um die Ecke.“


            „Marcus Tullius Cicero“, verkündete der Sklave lächelnd, „wünscht euch tatsächlich zu sehen. Er wird euch in Kürze empfangen, bitte nehmt Platz.“ Er kritzelte ein paar Zeilen auf ein Wachstäfelchen, dann huschte er davon. Crixos machte es sich auf einer der Bänke im Atrium gemütlich und schaute sich stauend um, Catugnatus und Ollugnio blieben jedoch mit vor der Brust verschränkten Armen stehen. Das Atrium war klein - ungewöhnlich klein für das Haus eines Politikers, erst recht, wenn man es mit demjenigen der Fabier verglich. In der Mitte des Impluvium stand eine einfache dorische Säule mit zwei kleinen Jungen, aus deren Mündern Wasser quoll. Ob der Brunnen wohl von einem eigenen Wasseranschluss gespeist wurde? Aber wie sollte das Wasser sonst ständig da hinaus gluckern. Das Plätschern fand Rufus sehr angenehm – er liebte Wasser. Er bekam Lust, Schwimmen zu gehen - aber im Tiber, da gab es mehr Platz.
            „Kaum zu glauben, dass das hier das Haus eines römischen Konsuls ist!“, meine Crixos und wies auf die spärliche Einrichtung des kleinen aber makellos gepflegten Atriums: kein Fresko, keine Wandgemälde, nur sauber verputzte Wände – lediglich ein paar griechische Figuren in den Stuckarbeiten des Atriums, ein griechischer Stehleuchter aus polierter Bronze und Türen mit Giebel-Verzierung und roten Vorhängen, die ein griechisches Akanthusmotiv zierte – Bärenklau. Nur im Vestibulum hatte Rufus beim Hereinkommen ein paar Rahmen an der Wand gesehen. Es waren aber keine Bilder gewesen, sondern die üblichen Anschläge der tabulae hospitii: Jeder Gastfreund hatte eine eigene Tafel, auf der Name und Familie vermerkt waren. Rufus war aufgefallen, dass besonders viele Griechen dabei gewesen waren, die meisten aus Sizilien - darunter nannten ihn ganze Städte ihren Gastfreund und Schutzherren: tabulae patronatūs. Doch Cicero protzte nicht, jedenfalls nicht mit Reichtum. Dafür war das Atrium geschmackvoll und kostbar genug ausgestattet, dass niemand auf den Gedanken kommen könnte, er sei arm. Vielleicht wollte Cicero mit seiner vornehmen Zurückhaltung einen allzu großen Kontrast zu den bescheidenen Ausmaßen seines Wohnhauses vermeiden. Vielleicht war das aber auch seine Vorstellung von Stil und Eleganz.
            Crixos nahm sich eine handvoll gerösteter Kichererbsen, die in einer silbernen Schale auf einem Dreifuß bereit lagen. „Bei Esos und Cernunnos, keiner der einflussreichen Senatoren, die wir bisher aufgesucht haben, hat so ein kleines Haus! Nicht einmal Troucillos…“ Catugnatos und Ollugnio schienen sich jedoch überhaupt nicht für Ciceros Wohnsituation zu interessieren. Sie starrten nur finster in die Ferne. Wenn sie vorhatten, einen guten Eindruck bei dem führenden Politiker Roms zu machen, um die Steuererleichterungen für ihr Volk durchzusetzen, konnten sie kein unpassenderes Gesicht aufsetzen, fand Rufus: „Beim Teutates, wollt ihr etwa eure Chancen völlig verderben? Ihr wolltet doch aufpassen, niemanden zu verärgern! Wer wenn nicht ein Konsul könnte eurem Volk noch helfen, die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden?“ Ollugnio grunzte unfreundlich. Catugnatos versuchte ein Lächeln, was ihm, aber gründlich misslang. „Nun, wir haben schon ein paar Erfahrungen mit Cicero gemacht.“ „Beim Teutates, das haben wir“, fiel Ollugnio ein. „Erst verteidigt er das korrupte Schwein von Fonteius und dann… he, wo willst du hin? Benimm dich hier, beim Taranis!“
            Doch Rufus war nicht mehr zu aufzuhalten, er jagte bereits einem Mann durch die nächstbeste Tür hinterher. Er hatte ihn sofort erkannt: Es war der kleine Drahtige mit der Narbe. Alleine mit der Kapuze wäre er schon verdächtig genug gewesen, aber sich einfach an ihnen vorbeidrängen zu wollen, ohne von einem Sklaven, Liktor, Freund oder Bodyguard Ciceros begleitet zu werden, das war mehr als auffällig - auch wenn die alle vor der Eingangstüre und auf dem Dach Wache zu halten schienen. Als sich ihre Blicke gekreuzt hatten, war sofort Bewegung in den Mann gekommen er hatte einen überraschten Gesichtsausdruck gezeigt und war errötet, so etwas wie Scham, als ob er sich bei etwas ertappt fühlte. Rufus musste einfach wissen, warum dieser Mensch ihn in letzter Zeit ständig zu verfolgen schien. „Bleib stehen! Ich hab dich schon gesehen!“ Zwecklos. Der Drahtige rannte kreuz und quer durch ein Arbeitszimmer, stieß eine Statue um, die als Leuchter mit Öllampen behängt war und hastete weiter. Durch das Triklinium kamen sie wieder durch das Atrium, wobei Rufus die Kichererbsen vom Dreifuß fegte und Crixos von der Bank fiel.
            Schließlich landeten sie in einem großen lichtdurchfluteten Raum, der vor Schriftrollen überquoll. Der Narbenträger blieb abrupt in einer verwinkelten Zimmerecke stehen. Rufus lächelte. Jetzt hatte er ihn! Von hier ging es nicht weiter. Doch als er auf den Mann zuging, fing dieser an, kühl zu lächeln. Dann zückte er einen Dolch. Rufus lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Die Tür war zu weit weg, um rechtzeitig aus der Gefahrenzone zu kommen. Wenn er ihm den Rücken zudrehte und losrannte, hatte der Narbenmann alle Zeit der Welt, ihm den Dolch in den Rücken zu jagen. Seinen eigenen Dolch hatte er in den Händen von Ciceros Leibwächter lassen müssen. Einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber.
            Plötzlich hörten sie ein Rascheln und fuhren herum. „Ah Rufus, vermute ich. Salve!“ Die kraftvolle Stimme gehörte einem anderen Mann, einem etwas rundlicheren, der hinter einem Regal saß. Er besaß einen dicken Hals, eine breite hohe Stirn, eine fleischige Nase und sehr markante Augenbrauen. Als schön würde ihn Rufus nicht bezeichnen, aber es lag eine unglaubliche Ausstrahlungskraft in seinen Bewegungen: Nur kurz drohte er mit dem Finger und wie vom Donner gerührt steckte der Drahtige den Dolch weg. „Marcus, Tiro…“ Der Mann mit der Narbe schlug ehrfürchtig die Augen nieder. Neben dem Rundlichen stand der nette Sklave, der sie schon im Atrium begrüßt hatte. Freundlich lächelnd fuhr er mit seinen Notizen fort, ohne aufzusehen. Zuvor hatte Rufus keinen von beiden bemerkt, schon gar nicht hinter dem Regal. Als sich nun der Rundlichere erhob, da war es so, als ob es nur noch ihn allein in diesem Zimmer gäbe und niemanden mehr sonst. Offenbar hatte er hinter ihnen in seinem Korbsessel in einer Schriftrolle gelesen, die er jetzt wieder zusammenrollte. „Rufus, du kommst ja schneller als gerufen!“ Darauf ließ er ein gutmütiges Lachen ertönen. „Gerade wollte ich euch rufen lassen. Nun, das Rufen ist jetzt nicht mehr nötig, wie wäre es mit dem Vorstellen? Wie es scheint, kennst du Cicatrix bereits – ein alter … Freund von mir. Tiro, sorgst du bitte dafür, dass auch die andern Gäste aus dem Norden den Weg zu uns finden?“ […]
[Tiro kehrt mit Catugnatos, Crixus und Ollugnio zurück. Cicero begrüßt sie zuvorkommend, doch hält er sich auch nicht mit seinen spöttischen Bemerkungen zurück.]
[…]
            Diesmal schafften es die Allobroger nicht, sein Lächeln zu erwidern. Rufus war verwundert. Quintus Fabius Sanga hielt ihn doch für den besten Redner Roms! Musste Cicero da nicht ein feineres Gespür an den Tag legen können? Aber vielleicht war der große Redner gar nicht so groß, wenn er nicht vorbereitet war? Vielleicht gab er sich nur bei seinen großen Auftritten Mühe und sprach sonst ganz anders? Cicero setzte eine bekümmerte Miene auf: „Warum denn so mürrisch? Sicher seid ihr erschöpft von der Reise. Hier in Rom müsst ihr euch fremd vorkommen, so weit weg von euren Familien und Länderein, Sitten und Gebräuchen…“ „Da wir uns ja »von den anderen Völkern so sehr an Sitte und Natur unterscheiden«, meinst du?“ Cicero musste nur kurz überlegen. „Ach, ihr erinnert euch noch an meine Rede für Fonteius?“, fragte er dann belustigt. „Ja, das Zitat ist von mir…“ „Siehst du? Wir sind Gallier – wie Du damals deutlich ausgeführt hast, und unser Mienenspiel jagt Furcht ein. Wir sind nur neugierig, nicht mürrisch. Vor kurzem schien es noch so, als könnten wir tatsächlich »leichter die Alpen erklimmen als die paar Stufen zum aerarium«, der Staatskasse und ihren Pachtverträgen. Oder liegt das daran, dass man uns als Gallier »weder wegen ihres Jähzorns vertrauen, noch wegen ihrer Untreue respektieren darf«?“
            Für einen kurzen Augenblick erstarb das Lächeln im Gesicht des Cicero. Doch fast ebenso schnell war es wieder da. „Catugnatos!“, sagte er in leicht tadelndem Tonfall. „Wer wird denn einem Anwalt die dummen ungelenken Sprüche vorhalten wollen, der einen Klienten verteidigen muss?“ […].

[Cicero verweist die Allobroger schließlich nach einem unfreundlicher werdenden Wortgeplänkel an seinen Sekretär weiter, behält Rufus jedoch zurück]
            Rufus […] versuchte Ciceros Blick aus dem Weg zu gehen und blieb mit den Augen an einer Büste über dem Türsturz hängen: »Epikouros«, stand darunter auf Griechisch.
            „Schön, nicht wahr?“ Cicero war Rufus‘ Blick gefolgt. „Der war ein Geschenk. Den hat mir Atticus mitgebracht. Titus Pomponius Atticus: Ein Wohltäter Athens, ein großer Gelehrter und ein hervorragender Freund. Seine Familie lässt sich bis auf den römischen König Numa Pompilius zurückverfolgen – dabei ist er gar kein Patrizier, sondern Ritter wie ich.“ „Hat Atticus deine Wohnung eingerichtet? Im »attischen« Stil?“ Cicero musste lachen. „Nein, so weit geht es dann doch nicht, obwohl wir schon zusammen zur Schule gegangen sind… Aber ich nutze jede Gelegenheit, um mir gute Stücke mitbringen zu lassen. Den Zenon da drüben hat mir zum Beispiel mein Bruder Quintus aus Athen besorgt.“ Cicero wies auf die Büste über der Türe, hinter der Cicatrix verschwunden war. Rufus entdeckte noch weitere Philosophenköpfe: Platon, Karneades, Aristoteles. Teils waren sie über echten Türstürzen angebracht, teils auf Durchgängen, die täuschend echt auf die Wand aufgemalt waren.
            „Du magst sehr die griechische Philosophie, oder?“, fragte Rufus. Cicero zog eine seiner markanten Augenbrauen nach oben. „Philosophie? Du kannst Philosophenbüsten erkennen? Hätte ich nicht gedacht bei deiner Her… deinem Herkommen! Bisher bin ich nur einem Gallier begegnet, der weiß, was Philosophie ist.“ Rufus presste verärgert die Lippen aufeinander. Cicero war tatsächlich ein Snob! Na dem würde er schon zeigen, was in ihm steckte: „Ich kann mir sogar vorstellen, dass du mit am meisten den Epikouros verehrst - nicht wahr? Ist dein Haus deshalb so unscheinbar „einfach“, vor allem von außen? »Lathe biosas – lebe im Verborgenen«? Oder ist das dein Bekenntnis zu Zenon und der Stoa, obwohl das Haus eines Politikers schon von außen Eindruck machen sollte?“
            Getroffen. Diesmal konnte Cicero nicht die Haltung bewahren, sein Gesicht verriet Überraschung. Kurz war er sprachlos, dann lächelte er freundlich. „Wirklich sehr ungewöhnlich für dein… Alter. Wenn mein Sohn so gut Bescheid weiß, wenn er einmal so alt ist, bin ich ein zufriedener Mann. Beim Hercules, nicht einmal mein Augensternchen ist so schlagfertig!“ „Was ist denn nun deine Lebensmaxime, Cicero: lustlose Pflicht oder pflichtlose Lust?“ Cicero rieb sich amüsiert das Kinn. „Du willst mich also zwischen Stoa und Gärtchen festnageln? Da wandele ich doch lieber durch den Peripatos und antworte mit Aristoteles‘ goldener Mitte. Ein Gallier, der es zu Philosophieren versteht! Von einem Klienten des Diviciacos hätte man das aber erwarten können: Oh Philosophie, Wegweiserin des Lebens, Erforscherin der Tugend, Vertreiberin der Laster – was wären wir und das gesamte Leben der Menschen schon ohne dich…? Auch Druiden brauchen anscheinend Philosophie! Nächstes Mal werde ich Sanga bitten, mir Diviciacos als Gastfreund zu überlassen.“ „Du bist also ein Peripatetiker?“ „Gegen Wandelhallen habe ich nichts“, lächelte Cicero, „vor allem wenn die Sonne zu sehr brennt. Doch liegt mir die platonische Skepsis im Allgemeinen näher“.
            „Und warum steht der Epikouros gleich über dem Eingang zur Bibliothek?“ „Weil Atticus ihn mir geschenkt hat, natürlich! Jeder guter Römer ist immer auch ein Mann des Staates und kennt die Pflicht des Zenon. Außerdem ist mir das starre System des Epikur viel zu dogmatisch, das ist nichts für einen Skeptiker.“ „Als Skeptiker müsste dir doch der Kontingenz-Gedanke gefallen - dass alles vom blinden Zufall regiert wird und so. Götter, die aus Atomen bestehen und nicht in das Schicksal der Menschen eingreifen…“ „Beim Herkules! Kannst du dir etwa vorstellen, dass ein komplexer Kosmos ohne ein höheres, ein metaphysisches Gestaltungsprinzip, ja um nicht zu sagen ein göttliches, entstehen kann? Ich jedenfalls nicht!“ „Aber das stille Glück in der Familie, ist dir das nicht wichtig?“ „Nicht wichtig!“, tönte Cicero, „Nicht wichtig! Wie könnte mir meine Familie nicht wichtig sein? Auch ich habe Kinder. Aber ein Glück, das man nur für sich selbst sucht, ohne Verantwortung für das Staatswesen, kann so etwas denn für einen Römer jemals zu akzeptieren sein?“
            Rufus überlegte einen Augenblick. „Weil du Römer bist oder weil du Politiker bist?“ Cicero verzog das Gesicht. „Jeder Römer ist auch Staatsmann - jeder auf seine Weise, auch diejenigen ohne Amt. Aber was Epikur da fordert, die völlige Vermeidung von Schmerz und Unlust, das ist mit den mores maiorum nicht vereinbar. virtus, pietas, labor in negotiis, fortitudo in periculis, industria in agendo, temperantia, fides – Mannhaftigkeit, das rechte Verhalten gegenüber Göttern und Menschen, Mühen und Leiden in der Pflichterfüllung, Tapferkeit im Angesicht der Gefahr, Leistungsbereitschaft beim Handeln, Treue – all das macht doch einen vir vere Romanus, einen richtigen Römer erst aus! Wo wären wir denn ohne selbstlose Opferbereitschaft? Von manchen verlangt das Schicksal, eine Verpflichtung einzugehen, für die Gemeinschaft ein freiwilliges Opfer zu bringen – und wenn es bedeutet, sich foltern zu lassen oder gar sein Leben zu geben - glaubst du nicht?“ Rufus dachte nach. Hätten die Geiseln seines Stammes und deren Angehörigen sich nicht gebeugt, hätten die Sueben des Ariovistos ein Blutbad unter den Ubiern angerichtet. „Doch“, nickte er zaghaft. „Gut. Aber Folter und Tod – das kann nun einmal keine Lust erzeugen, sind wir uns da einig? Gut, das wäre nach epikureischer Lehre also sinnlos. Wie kann aber ein Staat bestehen, wenn sich niemand für die Verteidigung der Gemeinschaft einsetzt und sich notfalls opfern lässt? Und wie kann man in Ruhe sein Leben genießen, wenn es keinen Staat gibt?“
            Rufus kratzte sich nachdenklich am Kopf. Schon machte sich ein triumphierendes Lächeln in Ciceros Gesicht breit. „Wenn ich dich noch eine Sache dazu fragen darf, Konsul…“ „Nur zu!“ „Nun, Cicero, kommt es nicht vielmehr darauf an, wie man »Lust« definiert?“ Cicero runzelte die Stirn. „Wie meinst du das? Ist dir der Bedeutungsinhalt dieses Wortes nicht ganz klar?“ „Nein, das ist es nicht. Ich kenne inzwischen das Wort recht gut, im Griechischen wie im Lateinischen. Aber überlege doch einmal: Wenn man sich freiwillig um eines höheren Gutes willen opfert oder Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt – dann hat man doch die freie Wahl, dies auch zu lassen, oder etwa nicht?“ Cicero schürzte die Lippen. „Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst, junger Gallier“. „Wenn das Motiv für die Entscheidung, die nach Epikur ja eine freie ist, eine gute Erklärung hat - ich meine, um ein Opfer zu bringen. Stell dir vor, man entscheidet sich dafür, ein Opfer zu bringen und man erfährt gerade deswegen »Lust«. Ich meine eine andere Art von Lust, Lust, weil man zufrieden damit ist, seine Entscheidung durchgehalten zu haben – weil man ein Opfer bringt und stolz darauf sein kann. In dem Fall müsste man sogar unzufrieden sein, also »Unlust« erfahren, wenn man die Unannehmlichkeiten vermeidet, die man als Preis zu zahlen hat, wenn man seiner Überzeugung folgt: Seinem Stamm zu helfen, die Freiheit zu verteidigen, oder sonst einem höheren Ziel zu nützten – dafür zu leiden, das kann einen doch auch glücklich machen – oder dich etwa nicht?“
            Cicero zog beide Augenbrauen nach oben. „Was für ein unorthodoxer Ansatz… ich glaube jedoch kaum, dass Epikur das auch so gemeint hätte. Seine Philosophie birgt allerdings noch mehr Schwachpunkte.“ „Welche denn?“ „Na denk einfach einmal an das Atommodell Epikurs mit der παρέγκλισις oder declinatio, wenn du so willst: der spontanen Abweichung der Atome in ihrer Fallrichtung“ Rufus dachte angestrengt nach. Wie war das noch einmal, wuselten die nicht schräg durcheinander? Aber nein, bei Demokritos kamen sie alle parallel… „Du glaubst an das Modell des Demokritos?“ „Immerhin ist es in sich logisch. Epikurs Lehre ist außerdem nicht einmal eine große gedankliche Eigenleistung, sie ist unselbständig und beruht auf Demokritos: Aufgrund der Unwissenheit leben wir in Schrecken und Furcht, durch die Kenntnis der Naturgesetze aber werden wir vom Aberglauben befreit, die Furcht vor dem Tod wird uns genommen, wir werden nicht mehr verwirrt. Rationales Denken und Urteilen ist nur mit genauer Kenntnis des Wesens aller Erscheinungen möglich, ansonsten werden unsere Sinne beim Urteilen verwirrt. Dass ist doch eigentlich alles nur Demokritos. Da wo Epikur dann aber selbst den Gedanken der Atomlehre weiterentwickelt, da verschlechtert er ihn, anstatt ihn zu verbessern: Seine Neuerung mit der παρέγκλισις bleibt gänzlich ohne rationale Erklärung und macht die gesamte Idee unsinnig“.
            „Hm“, machte Rufus, „wenn man bei Demokritos stehen bleibt, bleibt dann nicht das Problem, dass die Atome, die alle in dieselbe Richtung von oben nach unten fallen, sich dabei eigentlich gar nicht berühren können? Wie können die Atome da zusammenstoßen, neue Verbindungen eingehen, sich zusammenschließen und sich wieder trennen? Müsstest du dann nicht auch Demokritos kritisieren und auch die gesamte Atomlehre ablehnen?“ Cicero machte kurz ein überraschtes Gesicht. „Hm“, räusperte er sich schnell, „jedenfalls fehlt in Epikurs System die gestaltende Kraft – die Entstehung komplexer Körper durch das Zufallsprinzip – das scheint mir jedenfalls äußerst unlogisch zu sein. Auch die Wahrnehmungs-Lehre von den eidola muss man einfach ablehnen, wenn man es genau bedenkt.“
            Rufus musste an Fabia denken und wie erbost sie reagiert hatte, als ihr Crispus die Philosophie solcher Denker nahe gebracht hatte: Philosophen, welche die Welt rein rational ohne die Götter zu erklären versuchten. Für Rufus war es anfangs auch schwer vorstellbar gewesen, dass Götter nichts auf Erden bewirken konnten oder dass es sie vielleicht überhaupt nicht gab. Doch hatte er sich unter Crispus‘ Erklärungen der Philosophen langsam an den Gedanken gewöhnt. An Epikouros kritisierte Cicero vorgeblich das Fehlen einer rationalen Erklärung der spontanen Abweichung der Atome in ihrer Bewegungsrichtung. Doch störte ihn nicht vielmehr etwas ganz anderes?
            „Sag einmal Cicero, kann es sein, dass dir bei Epikouros nur eine Art göttlicher Willen fehlt – so einen, wie man ihn noch bei Zenon und Platon findet? Wenn sich komplexe Organismen durch Zufallsprinzip entwickeln, dann soll für dich zumindest der Willen eines Gottes oder wenigstens irgendeines höheren Wesens im Spiel sein?“ Cicero machte ein ärgerliches Gesicht und zog seine buschigen Augenbrauen zusammen. „Beim Hercules!“ Doch schnell fasste er sich wieder und lächelte: „Sag einmal Rufus, wie heißt eurer Hauslehrer noch gleich? Ich könnte mir gut vorstellen, ihn später für meinen kleinen Marcus zu engagieren, wenn nicht für Tulliola… Ich danke dir für die Anregungen! Das ist ein interessantes Thema, spannend genug, es einmal in einem platonischen Dialog etwas genauer zu erörtern. Wenn man nur genügend Zeit und Muße dafür hätte, aber als Konsul…“
            „Marcus! Was schwatzt du denn da so lange? Du weißt doch, wie wenig Zeit wir zu verlieren haben!“ Mit einem Mal war ein kräftiger Mann ins Zimmer gestürmt. Die Ähnlichkeit mit Cicero war verblüffend. Nur dass dieser Mann eindeutig mehr Sport trieb und einen stärkeren Unterkiefer besaß. So könnte Cicero wohl aussehen, wenn er mehr trainieren würde – viel mehr. „Na, was ist, Bruder? Hat er dir schon alles erzählt, was du wissen willst?“ Die sportliche Variante von Cicero gefiel Rufus viel weniger: seine Augen blitzten unfreundlich und selbst seine Stimme hatte etwas Harsches. Außerdem hatte er ein paar Dolchträger mitgebracht, die sich breitbeinig vor den Türen aufbauten. Der Sportliche schnippte ihnen mit den Fingern zu: „Wenn nicht – auch gut: Dann prügeln wir’s doch einfach aus ihm raus!“ Gleichzeitig schlossen sich alle Türen der Bibliothek. Selbst die hohen Fenster waren verriegelt. Nur noch die Öllämpchen spendeten ein unruhig flackerndes Licht. Mit einem finsteren Lächeln kam der Mann näher und zog einen Dolch. Rufus schluckte.
[…]

[Cicero gelingt es, seinen Bruder Quintus zu beschwichtigen. Doch verlangt er einen hohen Preis, als er Rufus fragt, ob er ein Geheimnis bewahren kann…]

            Eine kühle Brise wehte vom Tiber zum Esquilin und strich sanft über den Garten. Bäume und Büsche raschelten leise. Außer dem fahlen Mondenschein und dem gedämpften Sternenlicht wiesen punische Laternen aus farbigem Glas den Weg aus dem Garten und zur Balustrade des ersten Stocks, wo die Schlafzimmer lagen. Ab und zu wehten ein paar Geräuschfetzen aus dem Tal mit nach oben -Gebell, Gelächter oder Gezeter-, ebenso Gerüche - Dampf aus der Subura. Sonst war es still. Im Hause des Quintus Fabius Sanga waren bereits alle schlafen gegangen. Alle bis auf Rufus - zumindest im hinteren Teil des Hauses. Rufus hatte sich zuerst an seinen Hund gekuschelt und wäre gerne dort im Vestibulum geblieben, doch nach ein paar Streicheleinheiten mit Milmass hatte ihn Cerberus wieder Schlafen geschickt: Offenbar ziemte es sich nicht, dass ein Gast der Fabier im Eingangsbereich herumlungerte. Schlafen, als ob das so einfach wäre!
            Rufus musste an zu Hause denken, seine Familie und seine Freunde. Er konnte sie einfach nicht vergessen: auch wenn die Erinnerungen längst nicht mehr so stark waren, sie wollten einfach nicht verblassen. Am Abend hatte er immer wieder die Briefe des Suarto gelesen und dabei die Tränen unterdrückt – wenn nur dieses blöde Heimweh nicht wäre! Schlecht waren die Nachrichten keineswegs. Nur fand er es schwierig, sie zwischen den Zeilen zu erkennen. Suarto hatte nicht ganz offen schreiben können, für den Fall, dass seine Briefe in falsche Hände geraten sollten – in die des Dumnorix oder gar des Ariovistos. Waren Haeduer, Averner und Sequaner schon so weit, ihre Dauerfehde zu begraben und sich gemeinsam von der Herrschaft des suebischen Heerkönigs zu befreien? Wer würde noch alles bei dieser Koalition der Gallier mitmachen? Die Chatten vielleicht, die Ubier sicher, sobald sie davon erführen - oder etwa doch nicht? War die Sicherheit der Geiseln in den Händen des Ariovistos mehr wert? Würde man die Geiseln verraten, wenn man sich gegen die Sueben erhob und ihr Leben aufs Spiel setzte? Wie viel war ein Menschenleben wert und wie viel die Sache, um derentwillen man es aufs Spiel setzen sollte? Wann durfte oder musste man einen geliebten Menschen verraten und wann auf gar keinen Fall?
            Veleda, dachte er. Veleda, seine ältere Schwester hätte sicher Rat gewusst. Sie war die einzige, mit der er über solche Fragen redete – oder wenn er nicht weiter wusste – oder überhaupt... Nur war Veleda eine Geisel des Ariovistos und weit entfernt. Bei dem Gedanken daran musste er seufzen. Sie war so weit von ihm entfernt wie die Sterne am Himmel. Es war bei ihnen wie mit Veleda: Er wusste, dass sie da waren, aber hier in Rom verbargen sich die meisten von ihnen zuallermeist hinter einer dicken Dunstwolke. So hell und klar wie zu Hause leuchteten sie hier nie. Dennoch lag er mit hinter dem Kopf verschränkten Armen im Gras und starrte in den Nachthimmel. Gerade jetzt konnte er doppelt Rat gebrauchen. Was sollte er nur tun? Cicero hatte ernsthaft besorgt gewirkt, aber konnte man ihm trauen? Würde Catilina wirklich ganz Italien in Tod und Verwüstung stürzen? Quintus und Larcia schienen davon überzeugt. Quintus schuldete er Loyalität, schließlich ließ er ihn hier wohnen, zahlte für sein Essen und seine Ausbildung. Hier war er vor Dumnorix sicher und konnte auf die Briefe von Suarto warten, bis es so weit war, dass er seinem Stamm helfen konnte. Aber war er nicht auch Gaius verpflichtet? Was wenn Gaius recht hatte und Cicero wirklich nur übertrieb? Wenn Catilina nur dem Volk helfen wollte? Dann würde er alles zerstören, wenn er für Cicero spionierte. Anderenfalls würde er mithelfen, ein Blutbad anzurichten, sollten Cicero und Quintus recht haben und Catilina nur nach eigener Macht streben. Dann musste er Catilina verraten, der ihn so freundlich beschenkt hatte – und Gaius, seinen gerade erst gewonnenen Bruder. Ein tiefer Seufzer entrann seiner Brust.
            „Da bist du! Warum versteckst du dich hier?“, flüsterte es durch die Rosenhecke. Rufus setzte sich mit einem Ruck auf. „Fabia?“ Fabia lächelte. „Pst, nicht so laut! Wenn man sich versteckt, dann sollte man nicht einmal seufzen. Sonst wird man gefunden, weißt du?“ „Ich wollte Lucius nicht stören. Ich wäre ja auch drüben auf die kleine Dachterrasse gegangen, aber da oben hätte ich sicher im Vorbeigehen die Sklaven aufgeweckt. Die Holzdielen knarzen.“ „Verstehe. Manchmal hat da oben auch Aulus Wachdienst. Früher ist Gaius ein paar Mal erwischt worden, als wir noch kleiner waren.“ Fabia ließ sich eng neben Rufus im Gebüsch nieder. Aber warum bist du überhaupt auf?“ Fabia legte ihren Arm um seine Schulter: „Musstest du etwa an jemanden Bestimmtes denken?“ Mit der freien Hand strich sie sich durch ihre langen braunen Haare.
            „Nein“, winkte Rufus ab. Er lehnte sich wieder zurück und sah wieder gen Himmel. „An die Sterne. Und ob sie mir etwas raten wollen. Aber was machst du eigentlich hier? Sollte nicht Agatha bei euch vor der Türe schlafen und auf euch aufpassen?“ „Agatha – passt auf, ich glaube man kann ihr Schnarchen noch von hier unten hören.“ Fabia kicherte. „Schön hier, so halb verdeckt vom Blätterdach… Erzähle mir von deinen Sternen. Tragen sie in eurer Heimat auch die Namen von Helden, Göttern und Liebespaaren?“ Fabia schmiegte sich an ihn. Rufus ließ es sich gefallen. „Auch unsere Sterne erzählen Geschichten. Eure Sternbilder sind aber ein wenig anders. Im Moment wollen sie mir einfach nichts sagen.“ „Schade, dabei ist doch da drüben eine große Lücke in den Wolken… Du willst Geschichten hören? Dann frage mich doch. Ich kenne nicht alle griechischen Mythen so gut wie Fabiulla, dafür bin ich besser bei unseren römischen. Unsere Mythen helfen uns dabei, zu wissen, wer wir sind und was wir tun müssen.“ Rufus starrte weiter in den Nachthimmel. Er versuchte ein bekanntes Bild zu erkennen, doch nichts schien sich zusammenzufügen. Der Himmel wollte ihm anscheinend kein Zeichen schicken.
            „Wie wäre es mit einer Geschichte über eine schwere Entscheidung?“, flüsterte er schließlich. […]
[Fabia erzählt Rufus von Dido und Aenaeas]
            „Und die Entscheidung?“ Fabia setzte sich ruckartig auf und blickte Rufus herausfordernd in die Augen. „Ja Rufus, die Entscheidung: Was rätst du einer Frau, die von höherem Rang ist? Soll sie einem Fremdling ihre Liebe gestehen? Auch wenn es gegen das Herkommen ist und gegen ihre Pflicht, gegen die Traditionen ihres Volkes, gegen die Sitte der Vorväter?“ Rufus sah sie nur verständnislos an. „So eine Entscheidung habe ich nicht gemeint“, murmelte er schließlich. „Woher soll ich denn wissen, was eine Frau soll?“ Fabia wandte schnell ihr Gesicht ab. „Ist etwas mit dir? Hast du etwas im Auge?“ „Nein, nichts. Ich muss wieder hoch. Nicht dass Agatha vorher aufwacht.“ Damit schlich sie wieder davon. Rufus blieb im Gras liegen. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, was Fabia ihm hatte sagen wollen. »Aber wer kann schon die Frauen verstehen« – hatte jedenfalls Onkel Lellavo immer gesagt. Die Sterne traten jetzt klarer hervor. Vielleicht wollten sie ihm jetzt endlich etwas sagen. Genügend Geschichten schienen sie ja erzählen zu können. Konnten sie ihm auch helfen, die richtige Entscheidung zu treffen?
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